Pitaval des Kaiserreichs, 1. Band. Hugo Friedländer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hugo Friedländer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754957905
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Soweit es sich darum handelte, ob die Nachgeburt im Topf nach Berlin gebracht worden ist, ob Schweineblut in Weinflaschen gefüllt worden ist, wird es nach Art eines Kolportageromans das Herz eines Dienstmädchens, das Ackerstraße vier Treppen wohnt, erfreuen. Das Sensationelle dieses Prozesses für uns Männer liegt in dem Prozessualen; es liegt in der Befürchtung, daß hier etwas nicht stimme. Weite Kreise haben hier diese Empfindung und man sagt sich: da müssen die Räder der Justiz nicht in Ordnung sein.

      Sehen wir uns die Eigenart dieses Prozesses näher an. Hinter mir sitzt eine Frau, gegen deren Moralität niemand etwas vorgebracht hat, mit einem makellosen Leben, von der wir gehört haben, wie sie ihr Vermögen für das Majorat aufgewendet hat. Sieht diese Frau so aus, daß man sie fähig halten könnte, aus gewinnsüchtiger Absicht ein gemeines Verbrechen zu begehen?'

      Und von wem wird die Gräfin belastet? Von Fräulein Hedwig Andruszewska, von Herrn Peter Hechelski, von Frau Ossowska und von Frau Valentine Andruszewska. Das sind die Zeugen, gegen die das Wort der Gräfin einfach verpufft im Winde. Aber steht denn die Gräfin allein? Ich denke, nein, und doch ist sie isoliert worden. Sie beruft sich auf das Zeugnis von treuen Leuten, die in ihrem Dienst standen, von Leuten ferner, mit denen sie gesellschaftlich verkehrt. Aber was geschieht mit diesen Leuten, die auftreten, um ihre Unschuld zu beweisen, während man ihr doch umgekehrt die Schuld nachweisen muß. Die alte, treue Dienerin Knoska tritt für die Gräfin ein, man glaubt ihr nicht, eine Lehrersfrau, die Kwiatkowska, tut dasselbe, man glaubt ihr nicht; Frau von Moszewska, eine zwölffache Großmutter, man glaubt ihr nicht, denn ihr haftet ja der Makel an, daß sie die Schwester des Grafen ist. Frau von Koczorowska eilt über die Grenze, tritt für die Gräfin ein, man glaubt ihr nicht. Die Wienskowska hat jetzt andere Bekundungen gemacht wie früher, sie wird verhaftet, und ich bin der Ansicht, sie wird vielleicht heute noch nicht wissen, weshalb sie verhaftet worden ist. Bei aller Hochachtung vor den Gründen, die ich respektiere, frage ich mich doch, ob diese Verhaftung gerechtfertigt gewesen ist. Die Knoska und die Kwiatkowska sind verhaftet, gegen die Frau von Koszorowska, eine hochachtbare Dame, ist die Voruntersuchung eingeleitet, gegen die alte Frau von Moszewska ebenso. Wohin kommen wir, wenn wir schon bei Frau von Koczorowska annehmen wollten, daß sie aus besonderem Interesse gehandelt habe, dann erst bei den Belastungszeugen? Da stehen wir alsdann doch völlig vis-à-vis de rien. Der Staatsanwalt hat nach dem Gesetz mehr Recht als die Verteidigung, er steht im Kontakt mit dem Untersuchungsrichter und hat jederzeit das Recht der Akteneinsicht. Das gibt ihm auch ein Übergewicht über die Verteidigung. Zwar ist hier in diesem Saale das Wort gefallen: »Die Staatsanwaltschaft ist die objektivste Behörde der Welt.«

      Daß das Wort ehrlich gemeint ist, daran zweifle ich keinen Augenblick. Das Wort gilt aber nur bis zur Eröffnung des Hauptverfahrens. Das wird niemand mehr bestreiten, nachdem er gestern die Rede des Herrn Staatsanwalts Dr. Müller gehört hat in ihrer ganzen Leidenschaftlichkeit.

      Mich hat es auf das tiefste geschmerzt, daß ein Staatsanwalt, der die Ehre hat, gegen uns zu plädieren, es gewagt hat, die Verteidigung vor der Öffentlichkeit zu beleidigen. Das werde ich nachher näher begründen. Da wurde gestern gesagt: »aus Hechelski ist so manches herausgeholt worden,« »man hat gewisse Kniffe angewendet,« »schlimmer als die Folter« usw. Weiter wurde gesagt: »man hat versucht, durch Kinkerlitzchen die Aufmerksamkeit von den Tatsachen abzulenken.« Ich frage mich: wer ist denn dieses unpersönliche »man«. Hat der Herr Staatsanwalt die Herren Geschworenen gemeint? Das ist nicht anzunehmen. Oder den Gerichtshof und den Herrn Vorsitzenden? Das ist ausgeschlossen. Wer bleibt da noch übrig? Wir! Die Verteidigung. Die Frau Gräfin kann er auch nicht gemeint haben, denn sie hat ja kaum einmal zu einer Frage den Mund aufgetan. Auch die Zeugen können nicht, als diejenigen gemeint sein, die »etwas herausgeholt« haben. Wer also bleibt anders übrig als das Aschenbrödel Verteidigung. Herausgequetscht mit gewissen Kniffen wurde gesagt. Das ist ja der negative Knigge!

      Die Verteidigung hat erfahren, daß mit dem Zeugen Hechelski nicht alles in Ordnung sein soll, und da sollen wir stillschweigen? Wo sind die Kinkerlitzchen? Haben wir Zeugen, ohne etwas mitzuteilen, nach Warschau geschickt? »Versteckte Vorwürfe« wurde weiter gesagt! Was wir getan haben, geschah frei und offen, wir haben niemand draußen auf dem Korridor ausgefragt. Am wenigsten hat der Herr Staatsanwalt Dr. Müller, der vor mir den großen Vorzug hat, bedeutend jünger zu sein, das Recht, jemand, der in diesem Saal alt und grau geworden ist, derartige heftige Vorwürfe zu machen.

      Der Verteidiger erörtert im weiteren die Mängel der Voruntersuchung, und fuhr fort:

      Wer aber bezahlt den Geschworenen die Kosten für die vielen Verluste, die sie während dieser vielwöchigen Arbeit in ihrem Berufe erleiden? Etwa der Staat, der sehr besorgt war, dem kleinen Sohne des Weichenstellers Meyer ein weißes Mäntelchen auf Staatskosten zu besorgen? Wenn die Gräfin nach diesen zehn Monaten, die sie in körperlicher Pein im Untersuchungsarrest zugebracht, aus diesem Saale gehobenen Hauptes herausgeht, so wird sie ihre Pein nicht bereuen, denn die Lehren, die dieser Prozeß gibt, werden sicherlich nicht an der Kommission vorübergehen, die jetzt gerade mit der Reform der Strafprozeßordnung beschäftigt ist! Ich komme noch mit einem Wort auf die ärztlichen Gutachten. Ich bedauere, daß die Überzeugung von der Schuld der Gräfin auch in diesen Saal hinübergestrahlt ist und den einen Sachverständigen, Herrn Professor Dr. Dührßen, dessen Tätigkeit ich sonst bewundere, erfüllt hat. Ich habe bei dem Gutachten des Professors Dührßen die Objektivität und Unparteilichkeit leider vermißt. Er hat wohl nach bestem Wissen und Gewissen sein Gutachten abgegeben, aber die Voraussetzungen zu seinem Gutachten sind derartig, daß man ihm unmöglich großen Wert beilegen kann. Wenn er nach einem Gutachten von 3/4 Stunden endlich zu dem Schluß kam: »Ich glaube nicht, daß die Gräfin schwanger war«, so hat er sich von Tatsachen leiten lassen, die auch andere ehrenwerte Männer schon bestochen haben und doch nichts beweisen! Ich kann mich auch bezüglich dieses Gutachtens auf die Öffentlichkeit berufen. Die Zeiten, wo in diesem Hause ein Mann sagen konnte: »Es gibt keine Öffentlichkeit« sind ja glücklicherweise vorüber! Das Volk spricht in solchen Sachen mit.

      Die Stimme des Volkes ist die Stimme Gottes, und niemand kann mit Scheuklappen daran vorübergehen! Fragen Sie nur im Volke nach, und Sie werden finden, daß das gesamte Volk keine andere Meinung hat, als die Verteidigung. Ich bedauere, daß es so weit gekommen ist, daß in einer Zeitung ein Artikel mit der Überschrift »Professor Dührßen als Staatsanwalt« erscheinen konnte. Auch die Berliner Ärzteschaft wird sich wohl mit der Frage beschäftigen müssen: Wieweit darf ein ärztlicher Sachverständiger in seinem Gutachten gehen? Der Staatsanwalt sagt: die Polen haben sich zusammengetan, um die Angeklagte den deutschen Richtern zu entreißen. Nun fragen Sie aber mal das Bürgertum, welches doch die adlige polnische Gräfin und die polnische Wirtschaft gar nichts angeht, wie es über die Sache denkt, und Sie werden allseitig Zustimmung zu der Auffassung der Verteidigung finden.

      Wie aber steht es denn mit der Stimme der Natur? Fest steht doch, daß in der Ähnlichkeitsfrage die Kunst und die Wissenschaft für die Behauptungen der Frau Gräfin greifbaren Stoff geliefert. Der Ritter von Ziegler ist hierher getreten und hat gesagt: ich weiß nicht, ob der Knabe mein Kind ist, Frau Meyer ist hergetreten und hat gesagt: ich glaube, daß es mein Kind ist, dagegen hat die Gräfin gesagt: es ist mein Kind! Wollen Sie dies Kind, welches von der Gräfin gehegt und gepflegt wird, der Mutter von der Brust reißen? Wollen Sie sich von einer gewissen Beredsamkeit überzeugen lassen? Ich dächte, die Berliner Richter und Geschworenen lassen sich durch Beredsamkeit nicht zwingen, sondern lediglich durch die Macht der Gründe und Tatsachen. Denken Sie daran, wie man den Grafen, der sich unbeobachtet wähnte, kniend am Bette des Knaben, und ihn herzend und mit ihm spielend, vorfand. Das ist die Stimme der Natur. Auch der Umschwung der Öffentlichen Meinung ist zweifellos hervorgerufen durch die Macht der Tatsachen, durch die Beweisaufnahmen. Wenn Sie den Richterspruch in Übereinstimmung mit dieser öffentlichen Meinung fällen, dann folgen Sie ihr nicht, sondern zeigen nur, daß Sie richtig und zutreffend die Tatsachen erfaßt haben. Ich zweifle nicht, daß nach dem Resultat dieser Beweisaufnahme das einzige Wort, das Sie, meine Herren Geschworenen, auf die Schuldfrage sprechen werden, das Wort »Nein!« ist.

      Verteidiger Rechtsanwalt Dr. Eger (Posen) suchte den Nachweis zu führen, daß das Geständnis der Angeklagten