Vors.: Sie haben am 6. November 1906 ein Tagebuch mit dem Motto: »Mit Gott« angelegt, wie kamen Sie auf diesen Gedanken?
Angekl.: Ich weiß selbst nicht.
Vors.: Aus welchem Grunde schrieben Sie als Motto: Mit Gott?
Angekl.: Das weiß ich selbst nicht.
Vors.: War Ihnen vielleicht bekannt, daß die Kaufleute auf ihren Hauptbüchern das Motto: »Mit Gott« schreiben?
Angekl.: Nein.
Vors.: Sind Sie religiös erzogen?
Angekl.: Jawohl.
Vors.: Haben Sie das religiöse Leben fortgesetzt?
Angekl.: Ich bin hin und wieder in die Kirche gegangen.
Vors.: Sie schrieben in das Tagebuch: »Die Behandlung bei Berndt hat mir jede Lust für die Gärtnerei genommen. Er hat es fertiggebracht, mich zu ruinieren. Ich bin schon so lange arbeitslos. In solch arbeitsloser Zeit muß man immer tiefer sinken. Ich bin sehr tief gesunken. Wie soll das noch werden?«
Vors.: Was meinten Sie damit: Sie sind schon tief gesunken?
Angekl.: Wenn man gewissermaßen Vagabund ist, dann ist man doch tief gesunken.
Rücker hatte in das Tagebuch geschrieben: Um einen Betrug zu begehen, fehlt mir der Mut, dagegen könnte ich es fertigbringen, zur Stillung meines Hungers einen Menschen zu ermorden und zu berauben. Der Angeklagte bemerkte auf Befragen des Vorsitzenden: Während er außer Arbeit war, habe er sehr viel, ganz besonders Fachliteratur gelesen. Er habe wohl einmal einen Roman gelesen, in dem ein Raubmord im Eisenbahnkupee geschildert war, dadurch sei er aber nicht auf den Gedanken gekommen, den Raubmord zu begehen. Er gebe zu, große Vorliebe für Süßigkeiten gehabt zu haben. Er sei wohl einmal auf den Gedanken gekommen, sich durch Geigenspiel Geld zu verdienen, er habe den Gedanken aber niemals zur Tat werden lassen. Er habe auch Hamburger und Altonaer Zeitungen Aufsätze und Gedichte eingesandt, aber kein Honorar dafür erhalten.
Vors.: Sie sollen einmal einer jungen Dame, als Sie in Oranienburg waren, erzählt haben: Sie hießen nicht Rücker, sondern Fernaldo, Rücker sei nur Ihr Pflegevater. Ihr Vater sei ein deutscher Edelmann, Ihre Mutter Zigeunerin gewesen?
Angekl.: Das war eine Renommisterei.
Vors.: Woher hatten Sie das Geld zur Lösung der Fahrkarte?
Angekl.: Ich hatte mir eine Mark von meiner Wirtin geliehen.
Die als Zeugen erschienenen Wirtsleute des Angeklagten bekundeten: Rücker sei ein sehr ordentlicher Mensch gewesen, der gänzlich zurückgezogen lebte. Sie hätten ihm eine schlechte Tat, am allerwenigsten aber ein solch entsetzliches Verbrechen nie zugetraut. Sie ahnten nicht, daß der junge Mann hungre. Wenn er sich ihnen offenbart hätte, dann würden sie ihm unbedenklich Geld geliehen haben, zumal ihnen bekannt war, daß er der Sohn wohlhabender Eltern sei: Er spielte so wundervoll Geige, daß die Leute auf der Straße weit und breit stehen blieben, um den melodischen Tönen zu lauschen.
Es wurde festgestellt, daß der Angeklagte schon als Knabe vielfach an Kopfweh, bisweilen auch an Krämpfen gelitten habe. Der Angeklagte bemerkte noch auf Befragen des Vorsitzenden: Geräusche haben sehr empfindsam auf ihn gewirkt. Er habe an Schlaflosigkeit gelitten und sehr schwere Träume gehabt.
Von Zeugen wurde bekundet, daß Rücker des Nachts laufe Selbstgespräche geführt habe. Die Ärzte begutachteten jedoch: Der Angeklagte habe zur Zeit der Tat nicht an geistiger Störung gelitten; seine freie Willensbestimmung war nicht ausgeschlossen.
Im Verlauf der Verhandlung erschienen zwei Damen der Halbwelt, mit denen Rücker am Sonntag nach dem Morde in einem öffentlichen Hamburger Hause verkehrt hatte, als Zeuginnen. Auf Antrag des Staatsanwalts wurde während der Vernehmung dieser Zeuginnen wegen Gefährdung der öffentlichen Sittlichkeit die Öffentlichkeit ausgeschlossen, den Vertretern der Presse aber gestattet, im Saale zu bleiben. Die Bekundungen dieser ›Damen‹ entziehen sich naturgemäß der Wiedergabe. Es sei nur mitgeteilt, daß die Zeuginnen bei dem intimen Verkehr den Eindruck gewonnen hätten, Rücker sei homosexuell veranlagt. Der Gerichtshof verurteilte den Angeklagten zu der höchsten zulässigen Strafe von 15 Jahren Gefängnis.
Prozeß wider das Grafen-Ehepaar Kwilecki wegen Kindesunterschiebung
Nirgends spiegelt sich das öffentliche Leben derartig wieder als an der Stätte, wo Frau Justitia mit Zepter und Wage ihres Amtes waltet. Unaufhörlich wechseln die Bilder. Bald ist es ein Lustspiel, bald ein erschütterndes Drama, bald gar eine Tragödie, die zur richterlichen Aburteilung gelangt. Der Prozeß wider das Grafen-Ehepaar Kwilecki, der im letzten Viertel des Jahres 1903 das Schwurgericht des Landgerichts Berlin I zwanzig Tage beschäftigte, zählt trotzdem zu den größten Seltenheiten. Handelte es sich doch um den spannenden Roman eines Grafenkindes, der nicht in einem Roman erzählt wird, sondern in rauher Wirklichkeit vor einem preußischen Schwurgerichtshof in der Hauptstadt des Deutschen Reiches verhandelt wurde. Und das Grafenkind, über dessen Geburt sich noch immer eine arme Bahnwärtersfrau und ein sehr reiches Grafen-Ehepaar streitet, erschien leibhaftig, von einem preußischen Gerichtsdiener geführt, vor dem Richtertisch. Der damals siebenjährige Graf Josef Adolf Stanislaus Kwilecki, Erbe des großen, in der Provinz Posen belegenen Majorats Wroblewo, ein auffallend schöner Knabe, soll der uneheliche Sohn eines blutarmen Krakauer Dienstmädchens sein, das inzwischen einen böhmischen Bahnwärter geheiratet hat. Kaum geboren, soll ihn seine arme Mutter für hundert österreichische Gulden verkauft haben. Nach einiger Zeit regte sich aber bei dem Mädchen die Mutterliebe. Sie empfand Sehnsucht nach ihrem Kinde und bereute, daß sie den hübschen Jungen für ein paar Silberlinge verschachert hatte. Sie wandte sich an die Hebamme, die den Verkauf des Kindes vermittelt hatte, und an den Krakauer Rechtsanwalt Dr. Filmowski, dem vom Gericht die Vormundschaft des Kindes übertragen war. Die Hebamme wußte, daß das Kind an eine Grafenfamilie nach Deutschland verkauft worden sei. Die Käuferin hatte der Mutter die Versicherung gegeben: das Kind werde es so gut haben, daß ihm eigentlich nur noch das Himmelreich fehlen werde. Inzwischen traf auch ein Mann aus Deutschland in der armseligen Wohnung des Krakauer Dienstmädchens ein. Dieser erzählte: ein Grafen-Ehepaar in der Provinz Posen, Besitzer eines umfangreichen Majorats, werde beschuldigt, einen Knaben aus Krakau gekauft zu haben, um den Anschein zu erwecken, es sei dem schon bejahrten Grafen-Ehepaar ein männlicher Leibeserbe geboren worden. Das Grafenpaar bedürfe eines solchen, da durch die große Verschwendungssucht der Gräfin die gräfliche Familie eine große Schuldenlast habe, so daß der Gerichtsvollzieher fast täglicher Gast im Grafenschloß sei und von den Familienangehörigen und der Dienerschaft »Onkel« genannt werde. Das Vorhandensein eines männlichen Leibeserben berechtige die Grafenfamilie, eine Hypothek auf das Majorat aufzunehmen, in den weiten Waldungen Holz in großen Massen fällen zu lassen und dies zu verkaufen. Ohne das Vorhandensein eines männlichen Leibeserben sei zu beiden Sachen die Genehmigung der Agnaten erforderlich, an die auch alsdann nach dem Tode des Grafen das Majorat falle. Die Gräfin müßte, wenn ein männlicher Leibeserbe nicht vorhanden sei, nach dem Ableben ihres Gatten die gräfliche Besitzung verlassen. Der Mann war der Agent Hechelski aus Posen, der im Auftrage des Grafen Hektor Kwilecki nach Krakau gekommen war, um die Verschacherung des Knaben festzustellen. Graf Hektor würde der Erbe des Majorats sein, wenn der jetzige Majoratsherr Graf Zbigniew Wesierskie Kwilecki ohne männlichen Leibeserben stürbe. Es wurde außerdem festgestellt, daß die im Jahre 1846 geborene Gräfin Isabella Wesierska Kwilecki Ende Januar 1897 von Wroblewo nach Berlin gekommen sei, hier in der Kaiserin-Augustastraße 74 eine Wohnung gemietet und am 27. Januar 1897 angeblich einen Knaben geboren habe. Es fiel auf, daß die Gräfin, deren letzte Schwangerschaft 18 Jahre zurücklag, und die mit ihrem damals 58jährigen Gatten eine sehr schlechte Ehe geführt, noch im 51. Lebensjahre Mutterfreuden erlebt habe. Es fiel auch auf, daß sie ihre Niederkunft nicht im Grafenschlosse Wroblewo, wo sie alle Bequemlichkeiten hatte, abwartete, sondern eigens zu diesem Zweck eine Wohnung in Berlin gemietet hatte, hier ohne Hinzuziehung eines Arztes einen Knaben gebar