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Alvine brauchte wie ihre Eltern lange, bis sie in dieser Nacht Schlaf fand. Das Streitgespräch mit ihrem Vater trat für sie jedoch bereits in den Hintergrund, seit er ihr einen Gutenachtkuss gegeben und ihr Schlafzimmer verlassen hatte.
Sie lief sodann wieder im Zimmer auf und ab in der Hoffnung, ihr Kopf würde endlich genauso ermüden, wie ihre schweren Beine und schmerzenden Arme. Zudem tat ihr der Rücken weh und die Augen brannten. All diese Leiden waren ihr wohlbekannt, nur ihr seit ein paar Tagen wummerndes Herz, das in ihrer Brust fast zu explodieren schien, so völlig ungewohnt. Sie hatte Bücher gewälzt. Sofern ihre Gedanken nicht abschweiften und sie somit das Gelesene erfasste, war sie dennoch nicht fähig, die Worte zu verstehen und auf ihr Beispiel anzuwenden. Nur über ein Syndrom stolperte sie wieder und wieder: Liebeskummer.
Die Neunzehnjährige trafen dergleichen Gefühle zum allerersten Mal in ihrem Leben und sie sah sich ihnen schutzlos und in unberechenbarer Wucht ausgeliefert. Noch nie hatte sie etwas nicht haben können, alles wurde ihr problemlos ermöglicht oder sie hatte es sich einfach genommen. Die Tatsache, dass es sich dieses Mal um etwas handelte, was sie bisher nicht einmal zu träumen gewagt hatte, versetze sie in Wut. Sie wollte einen Mann nur für sich, den einen, den sie nur ein einziges Mal gesehen hatte und nie wieder sehen würde. Ihr Herz krampfte zusehends bei dem Gedanken.
Schließlich warf sie sich auf ihr aufgedecktes Himmelbett und vergrub das Gesicht in einem Kissen.
Lächerlich! Sie benahm sich so lächerlich!
Sollte sie sich all die Jahre etwas vorgemacht haben und über diese Art von Abhängigkeit doch nicht erhaben sein? Sie setzte sich so ruckartig auf, dass Schwindelgefühle sie überkamen, krallte sich an der Decke fest und atmete tief durch.
Erneut rief sie sich das Bild des Fremden vor Augen: seine atemberaubenden Iriden, stattliche Figur, beeindruckende Körpergröße und vor allem die Tatsache, dass er sein Pferd so gut zu lenken verstand. Das Tier war, ohne zu zögern, ins Wasser gesprungen, als sein Herr es dorthin lenkte. Natürlich an einer flachen Stelle, aber wie hätte es so etwas einschätzen können? Das sprach für äußerstes Vertrauen zwischen Pferd und Reiter.
Und wie neckisch er es verstanden hatte, sein goldenes Haar aus dem Gesicht zu streichen. Sie schüttelte sich. Rief sich seine gefährdende Jagd quer durch den Park in Erinnerung. Entgegen ihrer Hoffnung verblasste diese allerdings zusehends und Alvine erwischte sich dabei, wie sie nach Entschuldigungen für ihn suchte.
Sie war sogar kurz davor, sich einzureden, dass er ihr ihre Freiheit wohl lassen würde, wären sie verheiratet – aber diesen Gedanken verwarf sie sofort, ehe sie sich noch mehr für ihre einfältige Schwärmerei schämte. War sie am Ende also doch nur so ein törichtes Frauenzimmer, wie in Groschenromanen beschrieben?
»Nichtsdestotrotz ist er es nicht wert, ihn derart zu überhöhen. Kein Mann ist das!«, sagte sie zu sich selbst.
Überhöhte Helden gab es schon zu Genüge in der Prosa, die sie so gerne im Lyzeum mit den anderen Mädchen getauscht hatte. Im Gegensatz zu ihnen war ihr jedoch wohl bewusst, dass darin kein realistisches Bild gezeichnet wurde, doch was kümmerte das ihre Fantasie?
Die Worte ihrer Mutter drängten sich zurück in ihren Kopf: »Pass nur auf, dass du nicht zu grübeln beginnst!«, und ihr wurde gewahr, dass diese Gedanken sich schon zehn Mal in ihrem Hirn drehten und es zu zermartern drohten.
So erlaubte sie sich endlich den Schluss, der ihr bereits heute Vormittag eingefallen war: »Gut, vielleicht bin ich verliebt. Ich habe jedes Recht, mich heimlich nach Romantik zu sehnen, niemand darf mir meine Gefühle verbieten. Auch nicht ich selbst.«
Und ihr fiel nun denn ein, dass etliche Dichter*innen und Denker*innen, weil sie versuchten, die unsäglichen Qualen der Liebe zu kompensieren, Unglaubliches bewirkt hatten! Nun war sie an der Reihe.
Sie wollte es als glorreichen Wink des Schicksals betrachten. Die intensiven albernen Gefühle, die sie für den schneidigen Reiter empfand, würden ihrer Flamme Zunder sein, um sie auf all ihren Wegen zu befeuern.
Also atmete sie durch, kniete sich neben ihrem Bett nieder und verrichtete wie immer ihr Gebet zum Abend. Sie dankte der hohen Macht, bat um Schutz für ihre Familie und Freundinnen und sortierte ihre Gedanken. Spürbare Erleichterung breitete sich in ihrem Herzen aus. So klatschte sie, froh über ein Ende dieser Misere, in die Hände, löschte das Licht und rutschte unter die Decke. Zum ersten Mal erlaubte sie sich, ihre lüsternen Fantasien mit einem real lebenden Menschen auszukleiden, ehe sie ihrem Körper geübt die süßesten Empfindungen entlockte, wie es seit jeher ihr bestes Einschlafmittel war.
Sommer
Juni 1910: Der Ball im Hause Caspari läutete jedes Jahr die Sommersaison ein und galt als einer der Höhepunkte für die Bourgeoisie dieser Stadt. Zu der diesjährigen Veranstaltung waren über einhundert der hochangesehensten Familien geladen, zudem Freund*innen und gute Bekannte des Gastgebers aus anderen Regionen.
Darum hätte der Ballsaal nicht ausgereicht und so war kurzerhand ein Festzelt gemietet worden, welches nun aufwendig auf einer groß angelegten Rasenfläche am Stadtrand aufgebaut, ausgeschmückt und mit einem prächtigen Buffet auf die Gäst*innen wartete. Etliche Dienstbote*innen und Kellner*innen huschten möglichst unauffällig zwischen den gutbetuchten Feiernden umher, kredenzten perlenden Champagner in Gläsern, schenkten vollmundigen Wein nach oder gaben an mehreren Schenken Hochprozentiges aus.
Edmund Caspari, seines Zeichens Großgrundbesitzer, Verpächter von Fabrikgebäuden, Werks- sowie Lagerhallen, außerdem Vermieter zahlloser Wohnblöcke für die unteren Klassen, wollte wie jedes Jahr nebst Gattin erst die Bildfläche betreten, wenn die Feier schon in vollem Gange war und die Paare anmutig zu der rhythmischen Musik des Ensembles tanzten.
Herr Caspari hatte in seinem Leben so viele Reichtümer und Geschäftsbeziehungen gemehrt, dass er es nicht nötig hatte, vor seinen Gäst*innen Spalier zu stehen – und das sollte auch jede*r spüren! Er kam stets als Letzter auf sein eigenes Fest und ließ sich sodann nickend für die Pracht bauchpinseln und verwies auf seine Frau Anna, deren Lebensaufgabe es geworden war, sich in der Organisation dieses Großprojektes immer wieder selbst zu übertreffen.
Familie Hoheloh erschien dieses Jahr zu siebt, denn außer den beiden erwachsenen Söhnen Eduard und Karl mit ihren Ehefrauen, war ihr jüngstes Kind Alvine mit von der Partie.
Die Fürstenbergs hatten sie in dem Wirrwarr aus prächtig-bunten Ballkleidern und Fräcken in gedeckten Farben noch nicht erspäht.
Eduard, seine Haut war nur bedingt heller als die seiner Geschwister, war groß und schlank, nannte einen beneidenswerten Schnurrbart sein Eigen und trug seine kastanienbraunen Locken schulterlang.
Mit ihm seine Gattin Marie, die Einzelkind einer Weinbaudynastie im Südwesten des Reiches war. Auf ihrem Gut lebten und wirtschafteten sie an dreihundert Tagen des Jahres und kamen nur für große Anlässe wie diese in die Hauptstadt.
Eduard war ganz hin und weg – und zwar von seiner kleinen Schwester: »Was aus so einem Wildfang wird, wenn man ihn pudert, parfümiert und in ein güldenes Ballkleid steckt«, spottete er angetan.
Ebenso Karl: einen halben Kopf größer als Eduard, trug seine dunklen Haare kurz, dennoch kringelten sie sich sichtlich. Er konnte mit Komplimenten nicht hinterm Berg halten: »Und wie dir die Brokatspange steht, die ich dir mitgebracht habe. Findest du nicht auch, Becky-Liebes? Ganz entzückend!«
Die beiden blonden, markant hellhäutigen und drallen Damen amüsierten sich über ihre Gatten: »Als hätte man euch ein Püppchen geschenkt«, stellte Rebecca, Tochter eines Seidenhändlers, trocken fest, die mit ihrem Mann die meiste Zeit des Jahres in Fernost und im osmanischen Raum umhertingelte, um Geschäfte abzuschließen. Der Handel mit dem feinen Stoff war dem jungen Paar gänzlich übergeben worden, seitdem die Eltern Hoheloh sich zu alt zum Herumreisen fühlten.
Eduard