- Warum hab ich so oft den Friseur gewechselt? Der vorletzte hatte einen netten Gesellen, der war ebenfalls Mineraliensammler und fragte meine Mutter, ob ich ihn mal begleiten dürfe, auf ein ehemaliges Zechengelände, was nach kurzer Bedenkzeit zwar höflich, doch nicht minder bestimmt dann abgelehnt wurde. – Hat dieses Nein mir das Leben gerettet? Was hätt ich getan, wär ich mitgegangen, und dann hätt er im Schutze der Abraumhalde... vielleicht hätt ich fortan Gefallen an Männern, und zudem dem Friseur ein paar Sternminuten, und wenn schon nicht Stern, so doch wenigstens Schweif, aber gut, das ist Spekulation. Und da sich diese Geschichte mit Sicherheit nach '68 ereignet hat, die Wahrscheinlichkeit eher gleich Null.
- Überall Hundertfünfundsiebziger. Und falsche Achtundsechziger. So wird man gewiß kein Menschenfreund. Da nimmt man sogar einen Rufmord in Kauf. Ein Liebhaber nur der Erze und Quarze, na gut, auch des Nikotins; für eine Schachtel Zigaretten brachte er mir einen Schuhkarton, randvoll mit schwarzem Gestein, ins Haus, schwarzes Gestein mit Pyritadern drin, Katzengold, und Quarzkristalle, klein und eher matt.
Ich durfte mit in die Wahlkabine und sagte meinem Vater, was er ankreuzen soll; so weit ich noch weiß, eine Splitterpartei, die irgendwie für Europa war. Weder kann ich sagen, warum er drauf einging, noch was mich zu diesem Vorschlag getrieben. – Warum nicht die DKP? Nun, diesem Vorschlag wäre er trotz allem doch wohl kaum gefolgt; ich war ja selber noch ein wenig verunsichert damals wegen der Sache mit der CSSR. – Warum nicht Willy Brandt? Eigentlich nur wegen der Reichswehr. Was hatte mein Vater dort alles erlitten, und das unter den Sozialdemokraten ("Damals herrschte das Faustrecht", wie er, fast schon entschuldigend, sagte); kein Wunder also, daß Friedrich Ebert als Gleichwert für das Faustrecht ein so frühes und böses Ende nahm.
Am Montag nach der Wahl dachte Willys Parteifreund wohl nicht mal im Ansatz daran, an seiner Schule mehr Demokratie zu wagen. Statt dessen befahl er der Schülerschaft per Lautsprecher, in die Aula zu kommen, den Wahlsieg seiner Partei zu verkünden. Die wenigen, die nicht zuhören wollten, erhielten noch von der Bühne weg vom Sieger die entsprechende Reaktion, und das freilich nicht mit Worten.
Kam der Schulrat, ein mürrischer Alter mit wer weiß was für einer Vergangenheit, nahm Friedrich Noske den Rohrstock mit. Irgendeine Lappalie wohl, jedenfalls nicht das Weichholzgeländer, wo angeblich eine Rasierklinge steckte und einer Putzfrau das Staubtuch zerschnitt. Hätten sie den, der das war, je erwischt... – Beim Schulratsbesuch: rechts, links, rechts, links, dann der Rohrstock, und freilich nicht bei mir. Vielleicht war der Schulrat ja gar kein Nazi, sondern Glied der "Bekennenden Kirche"; auch CDU-Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier war Glied dieser mythenumrankten Gemeinschaft, seine Unterschrift findet sich auf der Urkunde, die meine Schwester in einer Feierstunde als Landesbeste bei der Abschlußprüfung der Dekorateure, vielleicht sogar von ihm persönlich, überreicht bekam.
Die Fußgänger-Eisenbahnbrücke beim Markt; hin und wieder mit meinem Vater dort rauf, und dampflokbespannte Zuggarnituren schnauften und dampften an uns vorbei, und Schnellzüge nur noch selten. Einer hatte mit weißer Kreide auf die Sandsteinmauer der Wendeltreppe "CDU = NPD" gekritzelt; warum nicht "S..." – egal; die Strecke ist längst stillgelegt, und außerdem hat man die Aufgangstürme vor einigen Jahren zurückgebaut, aufgeschnittene Schneckenhäuser und folglich keine Versuchung mehr für Graffiti- , Sitten- oder Drogenverbrecher.
Ein Werbespot der FDP zu den 69er-Bundestagswahlen pries die sozialliberalen Reformen an den nordrhein-westfälischen Schulen. Da konnte ich bloß noch heulen vor Wut. – Im Sommer '69 – oder '70 erst? – sang ein Schulchor in der Aula zur Entlassung der Neuntkläßler "Blowin' in the wind", allerdings in der deutschen Fassung.
Die Unterführungen nahe der Schrebergärten: nicht selten träumte ich, mich dort nachts und völlig alleine wiederzufinden, und irgend etwas kam auf mich zu, dem ich nicht entrinnen konnte, bedrohlich wie die bleiche Reklamefrau am Gemäuer einer ehemaligen Großwäscherei, bedrohlich wie das Bestattungsinstitut mit dem Sarg in der Auslage, gleich an der Ecke, wo's gradaus zu den Unterführungen und linksrum zu Schule und Gärten geht. Den Sarg haben sie lange schon rausgenommen. Vielleicht läuft da jetzt ein Werbeband, elektronisch und mit Webadresse; bestattungshaus-ruhe-sanft.de, [email protected].
1970. Eine verhärmte Junglehrerin, ich hatte ein wenig mit dem Nachbarn geplaudert, raus in den Vorraum, und nach der Stunde dann mit dem Schulheft rechts und links und rechts und links und rechts und links. Zum Glück war diese Frau so daneben, daß sich die Scham in Grenzen hielt. – Nicht besser unser Zeichenlehrer, der uns technisches Zeichnen lehrte und im hellen, modernen Zeichensaal einem Schüler eine blutige Nase schlug; das war wohl eher Angst als Scham, als er dann ohne ein Wort des Bedauerns seinem Opfer fürs Blut ein Tempo gab.
Mein Klassenlehrer ab der Siebten konnte sich kaum noch bändigen, als er das Wort "Pariser" hörte; ich hatte, allen Kondomen zum Trotz, noch nicht mal eine Vermutung. Die einzige ernstliche Rüge von ihm, an die ich mich erinnern kann, gab's mal in der Straßenbahn nach einem Ausflug in die Gruga; ein Mitschüler hatte sich auf der Drehgelenkscheibe erbrochen, und sicher, wie ich dachte, wegen zuviel Pommes frites, und ich hielt mir vorsorglich die Nase zu.
Fräulein Hertz war womöglich die einzige Lehrkraft mit einem gewissen pädagogischen Anspruch dort, na gut, vielleicht noch der Englischlehrer. Ein einziges Mal nur und eher ein Ansatz, "Schläge" konnte man das wirklich nicht nennen, und sicher noch nicht mal ganz unverdient; ich aber fand das unverschämt und sagte umgehend meinem Vater Bescheid und der vom Amt aus dem Fräulein Hertz, was die sich denn wohl erlaube, und dann hat sie sich auch noch entschuldigt. – Hatte er sich Arbeit aus dem Amt mitgebracht, half ich ihm schon mit vier oder fünf; Pappstreifen, Ordnergrün und -rosa, die ich nach Farben sortieren mußte. Einmal machte ich das nicht sorgsam genug, und er nahm mir die Pappstreifen aus der Hand und warf sie auf die gemaserte Platte aus damals noch weißem Bakelit vom selbstgezimmerten Nachkriegstisch, heute mein Wohnzimmer-Allzwecktisch. Vom Tapezieren abgesehen, da riß ich die alten Tapeten ab, und wirklich mit Begeisterung – half ich ihm später nie wieder? Schon möglich, doch wozu dieses Trauma-Geschwafel; in praktischen Dingen war ich der Fleißigste damals nun wahrlich nicht.
Auf dem Weg zum Schrebergarten kam mir ein älterer Junge dumm. Mein Vater zog sich ein paar Meter weiter eine Schachtel Peter Stuyvesant; als er die Gefahr bemerkte, eilte er herbei und verscheuchte den Jungen mittels einer kräftigen Ohrfeige, das war, zumindest in Nordrhein-Westfalen, so üblich wie völlig legal. Einmal stand er, wie angedroht, am Begrenzungszaun der Schrebergärten, tatsächlich nun zu kontrollieren, ob ich mich auf dem Pausenhof nun endlich mal zur Wehr setzen würde. Ich schlug so tatsächlich wie erstmals zurück und hatte fortan meine Ruhe. Er hatte sogar mit Prügel gedroht für den Fall, daß ich nicht zurückschlagen würde. Manchmal brachte er aus der Kantine ein Täfelchen Cadbury-Schokolade mit; Abend für Abend ließ er mich seine Mappe nach dieser Tafel durchsuchen, auch dann, wenn gar keine Tafel drin, was einer Pfeife rauchenden Psychotherapeutin mit einem weißen Opel Monza, die Praxis vis-a-vis zum FDP-Büro, sehr bedeutsam für alles, was folgte, erschien. – Täglich eine ganze Tafel? Von den handelsüblichen Größen gab es im Regelfall drei Einzelstücke, in Ausnahmefällen vier; bei sechs drohten ernste Gesundheitsschäden, war doch im Viertel eine Frau gestorben, weil sie täglich eine ganze Tafel verschlang. Ihre Leber, so sagten die Leute, sei ganz von Kakao verkrustet gewesen. Ich aß sogar rohe Schweineleber, und das mit größtem Genuß.
- Raus aus der Küche, zurück in den Flur, wo mich abends meine Schwester zu erschrecken pflegte und ich jedesmal wieder aufs neue drauf reinfiel, obgleich ich's doch wußte, daß sie es war, und beim Abbiegen in die sichere Küche nicht selten gegen den Türpfosten lief. Wohl ein einziges Mal nur auf ihrer Seite; ich ging aus Protest sogar mit in die Stadt, als sie dann wütend das Haus verließ; für einen Teenager sicher ein Bärendienst.
1967 die Rachenpolypen, diesmal in der Halsnasenohrenpraxis.