Dunkler weiter Raum. Hans-Georg Fabian. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hans-Georg Fabian
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742738301
Скачать книгу
laden das Volk zum Lobpreis ein, Worship 24 Stunden Nonstop, daneben eine Stellpapptafel mit Werbung für ein Erotikkino, 24 Stunden Worship Nonstop.

      Kirchentag auch im Schwulenviertel. Hardrock in einer "Jugendkirche". Dann ein Song mit Jesus, und freilich einer zum Kuscheln. Was wohl jetzt im Bathhouse abgeht... was aber geht da schon ab? Was sich die Spießer da alles so vorstellen, die reißen sich dort die Kleider vom Leib und... Sagte ja schon Bowie einst im Frühjahr '73: "The Jean Genie loves chimney stacks". Vielleicht kommen am Samstag Kirchentagsgäste, die auch an diese Mythen glauben. Dann könnte vielleicht was abgehen dort.

      - "And when the clothes are strewn, don't be afraid of the room". Kreideschrift auf dunklem Tuch vor dem Zelt einer weiteren "Jugendkirche" bietet Fußwaschung an und Nackenmassage. "Das tut Gott"? – Nur von ferne; bei näherem Hinsehen wird aus "Gott" ein ganz profanes "gut".

      Am Horizont Posaunenchöre: Lobet den Herren, den mächtigen König der Ehren, meine geliebete Seele, das ist – mein? – sein? – Begehren... – Unterhemden bekennen sich zur "Altpapiergruppe Loccum"; Loccum, das geistliche Zentrum des Hannöverschen Luthertums.

      Passagenbäume mit Holzbankkringeln. Kaum noch ein freier Platz zu finden, geschweige denn eine ganze Bank, und die sollte es eigentlich sein; Menschen langweilen mich oder machen mir Angst. – Also aufgerafft und noch einmal durchs Viertel, durchs Quartier Sida. Drei Buben vor einer Dessousboutique; einer von ihnen greift dem Plakatmann lachend an den Slip. Ein anderer zieht sich die Boxershorts runter und pinkelt auf den Bürgersteig. "Schauen Sie mal, der hat Pipi gemacht!", doch beschuldigt wird der Falsche. Der versichert mir seine Unschuld, und ich gebe ihm recht, denn ich hab’s ja gesehn; er lächelt und schaut seine Freunde an, dann wieder mich, dann wieder die Freunde. Die können sich kaum noch halten vor Lachen; dem, der's gar nicht gewesen ist, laufen inzwischen die Tränen.

      In der U-Bahn-Station Richtung Messegelände ist er längst wieder guter Dinge. Dort ein Wandplakat von Unicef: "Drei Prozent aller Erwachsenen in Frankfurt benutzen Kinder als Sexualobjekte." Und darunter, in Kinderschrift: "und die übrigen 97 Prozent als Hausaufgabenmaschine". – Kurz vor vier; es ist an der Zeit, wie einst schon Hannes Wader sagte in freilich ganz andrem Zusammenhang.

      2. Gesang

      Wir sind der Staat, und wir sind liberal? Die Bundesministerin für Selbstgerechtigkeit, zur Förderung der Tugend und zur Bekämpfung des Lasters auf Delacroix' Barrikaden, in der Hand ein gigantisches Gummiglied.

      - Das gibt es ja wirklich. Herbst '99, Schöneberg, in einem der zahlreichen Gay-Cinemas zwischen Nollendorfplatz und Kurfürstenstraße. Umgebaute Altbauwohnung mit Käfigecken und kaltfeuchtem Keller, für richtige Kerle und all die Loser, die im Kino nichts passendes finden konnten. Auf einem Podest in der Mitte des Kellers ein muskulöser Gummimann, vorher wohl Stunden im Käfigraum und dort offen für wirklich jeden. Und nun stand er da rum auf diesem Podest wie ein antiker Diskuswerfer mit kahlem Haupt und traurigem Blick, nackt bis auf die Springerstiefel, benebelt von den üblichen Asthmamitteln, laut Bundesministerin "Schnüffeldrogen" und eben nicht nur lungenerweiternd, im After besagtes Gummiteil.

      Der junge Russe mit der Trainingsbeutelhose ignoriert mich und freilich erwartungsgemäß; ein guter Grund, zur Sauna zu wechseln. Auf dem Weg zur Kellertreppe und grad an besagtem Podest vorbei, entgleitet dem Athleten der mattschwarze Phall und prallt mir auf den rechten Fuß; zum Glück trug ich schon die Winterschuhe. Nun, ich hob's auf, er dankte freundlich, und wusch mir dann erst mal die Hände.

      - Aber wenigstens frische Berliner Luft im Gegensatz zum badischen Mief, genauer, in den Tallagen; egal, die Bronchitis ist eh schon chronisch. Seit 22 Jahren Raucher; das Röntgenbild wird zur Momentaufnahme. Und wenn nicht Krebs, dann ein Emphysem; langsames, quälendes Dahinvegetieren. Oder meine nun auch schon seit Jahren chronische Übersäuerung; es gibt da ja Zusammenhänge: Magen- , Lungen- , Speiseröhren- , Kehlkopf- , Zungen- , Gaumenkrebs. Aber wenn schon unzeitig sterben, dann bitte nicht im Südwesten (bin ich doch nur des "Funks" wegen hier), im Land von Spätzle, Speck und Rahm, und dann noch womöglich im Krankenhausbett; wenn schon, ob unzeitig oder "zeitig", im Norden, gleichsam "gefällt wie ein Baum", im Wald und wenn irgend möglich, allein, kurzum, wie es schon Reinhard Mey in Anlehnung an Knut Hamsun erhofft. Das aber nur am Rande.

      - Und überhaupt, der "Funk"... vertretungsweise eine Handvoll CDs archiviert, Sixties-Pop, gediegene Unterhaltungsmusik. Everybody loves somebody sometimes. Sonnige Spätsommernachmittage, reife Frauen in Cabriolets. Die ganzen brasilianischen Sachen. Brasilien... damals ein Folterstaat, eine rechte Militärdiktatur. Das hätte ich Ende der sechziger Jahre ohne weiteres so sagen können.

      - Fußballand Brasilien: schlimmer noch als die BRD, wo man immer noch "Breslau" und "Danzig" sagte und die gute sozialistische DDR noch immer beleidigend "Ostzone" nannte. Wenn schon westdeutscher Fußball, dann Alemannia Aachen. Im Sportmittelteil der Mickymaus-Hefte Kurzporträts der Bundesligaspieler mit Sammelbildern zum Ausschneiden. Prinzipiell, so sagten die Leute, werden Fußballspieler Fußballspieler, weil sie zum einen nur Hilfsschule haben, zum anderen aber zu faul dann sind, wie sich's gehört, ein Müllmann zu werden. Gingen sie weder zur Müllabfuhr noch hatten sie das Zeug zum Fußballspieler, ja, waren sie dann zu allem Übel auch gar noch Hundertfünfundsiebziger – nun, dann wurden sie eben Schlagersänger wie etwa Freddy Quinn, so munkelten sie, die Leute, obgleich sie doch aus den Medien wußten, der spricht annähernd hundertfünfundsiebzig Sprachen, und wenn "Junge, komm bald wieder" dann im Radio wieder und wieder kam, mußte ich heulen, wirklich immer, obgleich ich der See und dem Seemannsleben in etwa so verbunden war wie Freddy Quinn dem eigenen Geschlecht, Freddy Quinn, der zwar zur Fremdenlegion, aber erst mal doch aufs Gymnasium ging – und die Leute gewiß vor Jahrzehnten schon über all diese Märchen aufgeklärt hätte, hätte ihn das, was die Leute so sagten, nicht geradezu amüsiert; und so hätte er sicher Verständnis gehabt, daß ich weder zur See noch ausreißen wollte...

      ...und sicher weit mehr als für eben den Umstand, daß ich mich damals mit zehn oder elf, nun ja, irgendwie schon so ein wenig "verguckt" in einen der Alemannenkicker, Hans-Josef Kapellmann, soweit ich noch weiß. – "Josef"... dann ist er sicher katholisch, und das sollte man eigentlich nicht so mögen, den ganzen katholischen Hokuspokus, Gebete leiern, den Heiligenkult und das Rumrutschen auf den Knien.

      In einem Aufsatz über ein Fußballspiel kämpften die Aachener Alemannen gegen den 1. FC Köln, die ich nach furioser Partie mit einem 4:3 oder 3:2 den verdienten Sieg erringen ließ, und freilich durch einen oder mehrere Treffer meines Schwarms Hans-Josef Kapellmann. Die anderen waren frei erfunden, und so kickte dann eben ein Müller für Köln, was in der Klasse für entsprechendes Gelächter sorgte.

      - Die Innenseite der Oberplatte des Bettkastens meines Klappbetts: am Außenrand der Querschnitt eines Mittelgebirges, Überläufer der Außenbeize, so ähnlich wie in Schulatlanten. Zwei Zacken überragten alle anderen und sahen aus wie der Kölner Dom. – Köln: der Inbegriff der Heuchelei; Katholizismus und Karneval, und das letztlich ein und dasselbe. Trotzdem gab's Rosenmontags Berliner und im Wohnzimmer bunte Papierschlangen gar, und im Cowboykostüm mit Spielzeugpistole ging es zum Rosenmontagszug, regelmäßig und Jahr um Jahr wie das Millowitsch-Theater im ersten Programm. Mitunter erfand ich beim Betrachten der Beize großorchestrale Schlußkadenzen, die einfach nicht mehr enden wollten.

      - Spaß- und Freizeitbad Seeheim, großer FKK-Bereich, dienstags abends und samstags abends im ganzen Bad textilfrei. Neulich drehte ein Bub im Hammam auf dem Wärmeplatten-Oktogon unter der Kuppel aus blauem Glas mit den kleinen Sternbildleuchten seiner Mutter an den Nippeln herum, als verstünde sich das von selbst. Im Whirlpool wieder die Walrösser nur; die glotzten mich gierig an. – Nur: was verlangt man? Was erwartet man? Ist man womöglich ein Geisterfahrer, der festen Überzeugung, die anderen...

      Nordwind ist selbst im Hochsommer kalt; man fröstelt auf einem Seeheimer Bahnsteig im Lärm der Durchgangsgüterzüge und hofft, und Besseres kann man ja kaum, einem Schnupfen jetzt so entgehen zu können wie späteren Strafaktionen derer, denen das alles hier Teufelswerk. Man kramt in der Anekdotenkiste, und schon ist die Hand im Falleisen drin...