Er scheint nicht zu wissen, was ich meine: „Worauf willst du hinaus? Es liegt doch alles auf der Hand. Warum hätten sie sonst ins Wasser gehen sollen?“ Wie gesagt, seine Theorie klingt ganz plausibel, aber ich bin noch skeptisch. Da sind ein paar Dinge, die das Ganze merkwürdig erscheinen lassen.
Und diese erkläre ich nun auch Blake: „Ganz einfach. Das Rudel besteht aus sehr vielen Wölfen unterschiedlichen Alters. Sie waren schon sehr lange nicht mehr unter Menschen und sehen vermutlich auch entsprechend aus. So eine große Gruppe würde unter den Menschen viel zu schnell auffallen. Viele haben bestimmt den Kontakt mit anderen Rassen völlig verlernt. Sie könnten sich unangemessen verhalten, womöglich mit den vielen Leuten nicht klarkommen, oder gar angreifen. Das weiß Leader bestimmt.“
Blake ist noch nicht überzeugt: „Du meinst also, dass Leader das Risiko nicht eingehen würde? Was macht dich so sicher?“
Ich zucke mit den Schultern: „Natürlich kenne ich ihn noch nicht so lange, wie du es tust, aber du hast mir schon einiges von ihm erzählt. Er geht immer auf Nummer sicher, warum sollte er es also hier nicht so machen? Außerdem kann ich mir nicht vorstellen, dass sie geschwommen sind. Das ist eine enorme Distanz. Sie haben bestimmt auch alte oder schwache Mitglieder im Rudel. Die Verluste wären groß.“
„Und auch das wäre nicht in Leaders Interesse.“ Endlich versteht er, was ich damit sagen will. „Die Stadt ist also deiner Meinung nach nicht ihr Ziel. Wo sind sie aber dann hingegangen? Und was wollten sie im Wasser?“
Auch darauf habe ich eine Antwort: „Ist doch logisch. Sie haben vermutlich gewusst, dass wir ihnen folgen. Deshalb wollten sie die Spuren verwischen. Ich bin mir sicher, dass sie nur am Ufer entlang durch das Wasser gelaufen sind. Das heißt früher oder später muss ihre Spur wieder vom See wegführen.“
Nun ist Blake sichtlich überrascht: „Wo hast du gelernt, so gute Schlüsse zu ziehen, Jessica? Du bist brillant.“ Lächelnd zucke ich mit den Schultern. Es hat auch seine Vorteile, die Schattenwölfe als Gegenspieler gehabt zu haben. Dadurch habe ich gelernt, lieber noch einmal nachzudenken und erst dann zu handeln.
Aus einem ähnlichen Grund folgt auch der nächste Vorschlag meinerseits: „Wir sollten uns am besten aufteilen. Immerhin wissen wir nicht, ob sie nach rechts oder nach links gegangen sind. Wenn wir gemeinsam die falsche Richtung einschlagen, kostet uns das nur unnötig Zeit.“
Diesmal zögert Blake: „Ich weiß nicht recht. Das mit der Zeit stimmt schon, aber was ist, wenn einer von uns dem Rudel dann allein gegenübersteht? Und außerdem wissen wir nicht, wie wir uns Bescheid sagen sollen, sobald der andere die Fährte wieder gefunden hat. Zurücklaufen würde ähnlich lange dauern und viel zu kraftraubend sein.“
Ich führe seinen Gedanken weiter aus: „Über unser Heulen können wir uns auch nicht verständigen, da es das Rudel hören würde.“
Mit einem freundlichen Gesichtsausdruck fragt er nochmal nach: „Du siehst also ein, dass wir uns besser nicht trennen sollten?“
„Ja, tue ich. Dann müssen wir uns aber umso mehr beeilen, in Ordnung?“ Er stimmt mit einem Kopfnicken zu. Also gehe ich zügig voraus. Ich habe beschlossen, zuerst nach links zu gehen, da der See auf dieser Seite weitläufiger ist. Wenn sie nach rechts gegangen wären, kämen sie schneller zur Stadt und Leader wird versuchen, diese zu vermeiden. Blake folgt mir wortlos.
„Hier ist etwas! Jessica, komm schnell her!“ Blake hat wohl endlich einen Anhaltspunkt gefunden. Wird auch Zeit. Wir sind nun schon lange genug unterwegs. Die Sonne nähert sich bereits dem Horizont.
Also laufe ich nach vorne zu ihm: „Was ist denn? Hast du eine Fährte aufgenommen? Ist ihr Geruch bemerkbar?“
Er deutet auf den Kiesboden: „Viel besser. Schau doch.“ Tatsächlich. Das ist noch um einiges besser, als ich gedacht habe. Überall sind Pfotenabdrücke. Kein Zweifel, sie sind hier aus dem Wasser gegangen. „Du hast tatsächlich recht gehabt. Sie sind zurück in den Wald gelaufen.“
„Dann sollten wir das auch tun.“ Mit diesen Worten gehe ich voraus und folge der Spur. Es dürfte nicht mehr allzu lange dauern, bis wir sie endlich gefunden haben. Ihr Geruch ist zwar schwächer durch das Wasser, aber dennoch hier. Allzu weit können sie nicht sein.
Als wir den Wald betreten, läuft Blake neben mir her: „Ab jetzt sollten wir auf der Hut sein. Leader ist bestimmt noch immer skeptisch. Er hat viel zu viel Angst vor möglichen Verfolgern, als dass er nur einen Moment unvorsichtig wäre.“ Das glaube ich auch, aber ich habe ohnehin schon länger über etwas nachgedacht, das ich Blake mitteilen will.
Wird Zeit, dass ich es ihm sage: „Bezüglich unseres Plans habe ich noch ein paar Veränderungsvorschläge.“ Er hört mir aufmerksam zu. „Überleg doch mal. Sie wissen ohnehin schon, dass wir ihnen auf den Fersen sind. Den Überraschungseffekt können wir daher sowieso vergessen.“
Überrascht fragt er nach: „Willst du sie etwa frontal angreifen?“
Etwas zögerlich nicke ich: „Mehr oder weniger. Mir ist zwar klar, dass sie in der Überzahl sind, aber was tut das schon zur Sache? Ich habe gesehen, wie gut du kämpfen kannst und du weißt auch, dass ich es mit vielen von ihnen aufnehmen kann. Warum also noch länger warten? Ich bin es ehrlich gesagt leid, ihnen andauernd nachzulaufen. Es wird Zeit, sich zu stellen und die Sache ein für alle Mal zu klären.“ Blake antwortet nicht. Er denkt nach. Ich kann mir gut vorstellen, dass ihm der Vorschlag nicht gefällt. Immerhin wartet er schon lange auf eine passende Gelegenheit und ist sehr geduldig. Das kann ich von mir selbst mittlerweile nicht mehr behaupten. Ich will das alles endlich hinter mich bringen und wieder meine eigenen Ziele verfolgen. Auch wenn ich noch nicht weiß, was diese genau sind.
Es folgt eine Reaktion, mit der ich nicht gerechnet habe: „Gut, so machen wir es.“ Nun bin ich diejenige, die überrascht ist und Blake einen fragenden Blick zuwirft. „Für mich ist es schon längst an der Zeit, dieses Kapitel meines Lebens abzuschließen. Heute wird es sich endlich entscheiden. Entweder Leader oder ich.“ Seine Entschlossenheit beeindruckt mich. Er würde mit seinem eigenen Leben bezahlen, um das von Leader zu beenden. Das finde ich beachtlich.
Mit einem Lächeln versuche ich, ihn zu ermutigen: „Wir schaffen das. Es ist simpel. Wir müssen uns nur bis zu Leader durchschlagen und ihn dann ausschalten. Wenn sie keinen Anführer mehr haben, werden die übrigen Wölfe davonlaufen.“
Er nickt: „Völlig richtig. Genau dasselbe habe ich mir auch gedacht. Eine Kleinigkeit wäre da aber noch, um die ich dich bitten möchte, Jessica.“ Ich kann mir schon denken, was jetzt kommt. „Bitte überlass Leader mir. Selbst wenn ich in eine missliche Lage kommen sollte, ich muss das allein durchziehen. Ohne Hilfe.“
„Das verstehe ich.“ Entschlossen blicke ich zu ihm. „Manche Dinge im Leben muss man allein schaffen, damit sie von Bedeutung sind. Leader gehört dir. Ich halte dir so gut es geht den Rücken frei, damit du es nur mit ihm zu tun hast. Überlass den Rest des Rudels ruhig mir.“
Offensichtlich erleichtert über meine Reaktion grinst er mich an: „Vielen Dank. Das weiß ich sehr zu schätzen.“ Plötzlich richtet sich sein Blick wieder nach vorne und seine Miene wird ernst. „Was soll das denn jetzt?“
Sofort folge ich seinem Blick und erkenne den Grund für Blakes Reaktion: „Wie ist das möglich? Die Spur endet hier.“ Schon wieder stehen wir vor einer Sackgasse. Diesmal aber nicht in Form eines Sees, sondern vor einer riesigen Felswand, die steil in die Höhe ragt. Sie verläuft links und rechts von uns noch sehr weit. Man kann kein Ende erkennen. „Glaubst du, dass sie geklettert sind?“
Blake schüttelt den Kopf: „Niemals. Die Wand ist zu hoch. Das hätten niemals alle geschafft.“ Er streckt seine Schnauze in die Luft und schnuppert. „Und da ist noch etwas, das mich stutzig macht.“
Ich mache es ihm nach und auch mir fällt sofort etwas auf: „Ihr Geruch ist hier viel stärker als am Rest des Weges.“ Unsicher blicke ich in alle Richtungen.