Gemeinsam strahlen die beiden sogar eine noch größere Wärme aus. Man merkt, dass sie schon sehr lange zusammenleben müssen. Mit der Zeit werde ich bestimmt mehr über alle Mitglieder des Rudels herausfinden. Die groben Beschreibungen von Nathan und Akeyla haben mir aber jetzt schon geholfen.
Ian soll einer der loyalsten Schattenwölfe sein. Er vertraut Marlow blind und dient auch oft genug als ausführende Kraft aufgrund seiner enormen Stärke. Das klingt plausibel, wenn man bedenkt, dass er der größte von den sechs ist, sowohl als Wolf, als auch als Mensch. Das zwei Meter große Muskelpaket kann es vermutlich mit jedem aufnehmen, was bei einem Kampf sicherlich nützlich ist.
Das absolute Gegenteil zu ihm stellt Jaden dar und das nicht nur der Größe wegen. Er ist zwar das kleinste Mitglied des Rudels, aber man sollte ihn nicht unterschätzen. Nathan hat mir gesagt, dass er derjenige ist, der die klügsten und gleichzeitig hinterlistigsten Pläne schmiedet. Marlow fragt ihn bei vielen Entscheidungen nach seiner Meinung. Laut Akeyla sollte man sich mit ihm nie auf einen Streit einlassen, da er sehr wortgewandt ist und sich dadurch zu wehren weiß.
Das ist eine Eigenschaft, die auf Mara gar nicht zutrifft. Mir war von Anfang an klar, dass sie eine sehr schwierige Person ist, die sofort zur Tat schreitet und nichts von allzu langen Gesprächen hält. Ihre Grausamkeit wurde mir auch noch einmal von Akeyla bestätigt. Sie findet Gefallen daran, andere leiden zu sehen und tötet liebend gerne. Eigentlich sieht sie als Mensch gar nicht so gefährlich aus. Sie ist sehr zierlich. Durch die kurzen, strubbeligen Haare wirkt sie beinahe etwas kindlich, doch der Schein trügt. Ich kann mir gut vorstellen, dass ich mit ihr so einige Schwierigkeiten haben könnte.
Zu Marlow konnten mir die beiden nur Dinge erzählen, die ich bereits wusste. Sein größtes Ziel ist es, die Welt in ewige Dunkelheit zu stürzen. Er sieht es als seine Pflicht an, das zu beenden, was seine Vorfahren begonnen haben. An anderen Wölfen liegt ihm genauso wenig, wie an den Menschen. Keiner im Rudel wagt es, seine Entscheidungen anzuzweifeln. Es gibt hierbei nur eine Ausnahme. Akeyla hat es mir erzählt, als Nathan eingeschlafen ist. Anscheinend ist er derjenige, der Marlow oft genug zur Weißglut treibt.
So habe ich also ein paar Informationen über mein neues Rudel gesammelt. Der Rest wird sich hoffentlich im Laufe der Zeit selbst ergeben. Zum Glück haben sie nicht nach meinen früheren Freunden gefragt. Ich bevorzuge es noch immer, sie aus meinen Gedanken zu verbannen. Leider gibt es da eine Sache, die mir Kopfzerbrechen bereitet. Es ist ein Problem, für das ich bald eine Lösung finden muss. Dabei geht es um die direkte Auseinandersetzung mit ihnen. Diese wird sich leider nicht vermeiden lassen.
Nun sitze ich bereits lange auf einer Holzkiste etwas abseits von den anderen und denke darüber nach. Und je länger das dauert, desto klarer wird mir, dass ich wohl oder übel gegen sie kämpfen muss. Marlow wird es nicht dulden, wenn ich zögere. Außerdem würde dieses Handeln das Vertrauen der Schattenwölfe zu mir in den Grundfesten erschüttern. Ich muss meine Vergangenheit hinter mir lassen und Jake, Chris, Rachel und Logan endgültig als meine Feinde anerkennen. Das ist die einzige Lösung.
„Bedrückt dich etwas?“ Ich erschrecke, als plötzlich Nathan vor mir steht. Bei all dem vielen Nachdenken habe ich ihn gar nicht kommen sehen.
Etwas zögernd antworte ich ihm: „Schwer zu sagen. Es gibt noch ein paar Dinge, die ich erst realisieren muss. Über manches bin ich mir noch nicht völlig im Klaren.“
Er setzt sich neben mich: „Du sprichst von deinen früheren Freunden, nicht wahr? Ich kann mir gut vorstellen, wie schwer es für dich sein muss, dich nun gegen sie zu stellen. Deine Unsicherheit ist zwar schon weitaus geringer als damals am See der Spiegel, aber du wirkst immer noch unentschlossen auf mich.“
Daraufhin schüttle ich den Kopf: „Eigentlich bin ich das ja nicht. Ich bin mir sicher, dass ich zu euch gehöre. So entschlossen war ich noch nie, glaub mir. Es ist trotzdem ein großer Unterschied zwischen der Tatsache, dass ich mich von ihnen abgewandt habe und der, dass ich sie nun vielleicht sogar verletzen muss.“
Nathan lauscht mir mit großem Interesse: „Ich verstehe. Hast du bereits eine Lösung gefunden? Wie hast du dich entschieden?“
„Mir bleibt ohnehin nichts anderes übrig, als sie früher oder später zu bekämpfen. Also werde ich das auch tun.“ Noch immer ist Nathan sehr aufmerksam. Genau deshalb kommt mir gerade ein Gedanke, den ich dann sofort ausspreche. „Du fragst nur aus Höflichkeit nach, nicht wahr?“
Diese Frage scheint ihn zu überraschen: „Wie kommst du darauf?“
Schulterzuckend folgt eine Antwort von mir: „Du besitzt doch auch eine besondere Fähigkeit. Wenn ich mich recht erinnere, kannst du die Gefühle von anderen erkennen. Also müsstest du doch wissen, ob ich zweifle oder nicht.“
„Das ist nicht immer so klar, wie ich es gerne hätte.“ Plötzlich steht er auf. „Komm, wir gehen zu den anderen zurück. Wenn du weiterhin allein hier herumsitzt, wirst du dich nie an die Gruppe gewöhnen.“ Mit diesen Worten geht er voraus zu den anderen, die alle vor einem großen Container sitzen. Das ging mir jetzt etwas zu schnell. Er hat das Gespräch einfach abgebrochen. Habe ich etwas Falsches gesagt? „Kommst du jetzt, oder nicht?“ Wortlos stehe ich auf und folge Nathan. Wie gesagt, aus dem Kerl werde ich nicht schlau. Hoffentlich ändert sich das bald. Ich kann nicht noch mehr Probleme gebrauchen.
Um ehrlich zu sein, ich bin kein großer Fan von Schiffsreisen. Flugzeuge sind mir ebenso wenig geheuer. Ich bevorzuge es, festen Boden unter den Füßen zu haben. Umso besser finde ich es nun, dass wir endlich von dem Frachter runterkommen. Unsere Reise hat zwei volle Tage gedauert. Das Rudel ist auch dementsprechend erschöpft. Wir haben in dieser Zeit keine Nahrung zu uns genommen. Das ist vermutlich auch der Grund, warum Marlow die folgende Anweisung gibt: „Genug ausgeruht. Wir gehen auf die Jagd.“
Keiner widerspricht ihm und wir folgen wortlos unserem Anführer. Es dürfte nicht allzu schwer werden, hier ein paar Rehe oder sonstiges Wild zu finden. Das Waldgebiet ist immerhin riesig. Gleich nachdem wir uns unbemerkt vom Schiff geschlichen haben, sind wir hierhergekommen. Das kleine Städtchen, in dem es Halt machte, interessierte Marlow kaum. Wir anderen konnten es ohnehin nicht erwarten, wieder frische Waldluft zu atmen und den weichen Boden der Natur unter unseren Pfoten zu spüren.
Ich verstehe mich mit den meisten im Rudel sehr gut. Nathan und Akeyla sind von Anfang an nett zu mir gewesen und auch mit Ian habe ich schon ein paar Worte gewechselt. Mara misstraut mir anscheinend noch immer und auch Jaden hat stets ein Auge auf mich. Aus Marlows Verhalten kann ich rein gar nichts schließen. Er ist immerhin der Anführer des Rudels und so benimmt er sich auch. Sobald er irgendetwas sagt, hören ihm die anderen aufmerksam zu. Ich mache es ihnen nach.
Bisher wurde kein einziges Mal angesprochen, wohin wir überhaupt gehen und ich wollte nicht nachfragen. Das wird sich vermutlich ohnehin von selbst klären, hoffe ich. Die Gesprächsthemen hatten auf der ganzen Reise nichts mit den Amuletten oder der Beschaffung dieser zu tun. Wir redeten über unterschiedliche Dinge, hauptsächlich über das Leben vor all dem hier. Alle Wölfe des Rudels scheinen das gleiche Schicksal zu teilen. Keiner wollte viel mit ihnen zu tun haben, sie entweder verjagen oder gar töten. Marlow hatte sich auf die Suche nach allen verbliebenen Schattenwölfen dieser Welt gemacht und sie auch gefunden.
Bei all den Konversationen war ich meist nur still und habe gelauscht. Nur bei einem Thema konnte ich nicht schweigen, denn die anderen wollten bald auch mehr über mich und mein Leben wissen. Also begann ich zu erzählen. Ich hielt es für unnötig, etwas für mich zu behalten, immerhin gibt es nichts zu verbergen. Hoffentlich hat meine Offenheit ihr Vertrauen etwas gesteigert. Anfangs hielten sie es für schier unmöglich, dass ich so lange unter den Menschen leben konnte.
Die Geschichte mit meinen verstorbenen Eltern traf auf geteilte Meinungen. Während Mara, Ian und Jaden nur wenig Mitgefühl zeigten, konnte man in Nathans und Akeylas Augen tiefes Bedauern erkennen. Das tragische Schicksal meiner Eltern ließ sie offensichtlich ganz und gar nicht kalt. Marlow hingegen grinste immer nur vor sich hin. Ihm scheint es zu gefallen, dass er erreicht hat, was er von Anfang an wollte. Er hat die Geschichte nun zu Ende gebracht und mich auf die Seite der Schatten gezogen.