Im Frühjahr 1944 war dem Obersten Stab die Gefahr eines handstreichartigen deutschen Überfalls durchaus bewußt. Aber was war an den Gerüchten und Warnungen tatsächlich dran? Zuletzt kursierte auch noch ein abgefangener Plan, die Deutschen wollten mit Ski fahrenden Gebirgsjägern der 1. Gebirgs-Division Drvar angreifen. Anfang März 1944 berief der Stab, nachdem er Informationen über einen deutschen Angriff erhalten hatte, die 2. Brigade der 6. Lika-Division „Nikola Tesla“ - Teil des 1. Proletarischen Korps unter dem Kommando des Serben Koèa Popoviæ - zum Schutz der militärischen und zivilen Stellen nach Drvar. Am 28. April 1944 wurde die Brigade wieder abberufen und durch die 3. Lika-Brigade ersetzt. Und die wurde wiederum am 15. Mai 1944 aufgrund einer Falschmeldung aus der Stadt herausgezogen und als Divisionsreserve in das zwölf Kilometer westlich von Drvar gelegene Gebiet bei Trubar verlegt.
Damit hing sehr viel von Titos Begleitbataillon ab. Jeweils ein Zug des Bataillons mußte in voller Kampfmontur mit griffbereiten Waffen schlafen. Wecken war um fünf Uhr früh, auch für die Angehörigen der politischen Organisationen, damit jeder noch vor Sonnenaufgang - und damit vor etwaigen deutschen Luftangriffen - seine Stellung beziehen konnte.9 Militärische Übungen zur Abwehr eines Luftlandeangriffs kamen den Partisanen nicht in den Sinn.
Der 1970 früh verstorbene deutsche Historiker Karl-Dieter Wolff, der in seiner Studie „Das Unternehmen ‘Rösselsprung’“ auch zahlreiche jugoslawische Quellen ausschöpft, geht mit der Verteidigungsstrategie der Partisanen hart ins Gericht: „Der Ausbau tief gestaffelter Verteidigungslinien, die die gelandeten feindlichen Truppen bis zum Eintreffen eigener Verstärkungen an der Eroberung des Hauptquartiers hätten hindern können, war bis auf unwesentliche Schanzarbeiten unterblieben. Die taktisch unkluge Anordnung der Truppen um Drvar war ebenso schwerwiegend wie das Fehlen jeglicher operativer Reserven in unmittelbarer Nähe der Höhle und der Unterkünfte des Obersten Stabes. Die im Augenblick der Landung für die Verteidigung des Hauptquartiers verfügbaren Truppen waren völlig unzureichend.“10
Die Deutschen hatten ihre Luftaufklärung über dem Gebiet der Bosnischen Krajina, dem Nordwesten Bosniens, intensiviert. Die bei Banja Luka - damals auch Weina Luka genannt - auf dem Flugplatz Zaluani stationierten Maschinen der „Abteilung für Nahaufklärung“ überflogen die Region fast täglich, um gegnerische Truppenkonzentrationen auszumachen, Stärke und Verteilung der Partisanen zu ermitteln und Luftaufnahmen von Drvar zu machen. Der deutschen Luftaufklärung war nicht verborgen geblieben, daß es in und um Drvar Markierungen für Luftlandungen gab - ein sicheres Indiz für alliierte Versorgungsflüge und Absprungplätze. Am 19. Mai 1944, sechs Tage vor der Operation, unternahm ein in Banja Luka gestartetes Flugzeug der Nah-Aufklärungs-Staffel Kroatien einen Aufklärungsflug. Der Fotograf in der Maschine vom Typ Henschel Hs 126 machte Luftbilder von Stadt und Umgebung. Die Partisanen registrierten das. Ins Partisanengebiet eingeschleuste Agenten berichteten ebenfalls von den Landemarkierungen.11
Die Auswertung der Bilder gestaltete sich aber schwierig. Die Auswerter taten sich schwer, Hauptquartiere und Kommandoposten der Partisanen zu lokalisieren. Nahe des Friedhofs von Drvar identifizierten sie drei Stellungen von Flugabwehrgeschützen und zogen daraus einen für die Deutschen fatalen Schluß: daß Titos Kommando seinen Sitz vermutlich in der Nähe des Friedhofs habe. Der Bereich am Friedhof wurde daher zum zentralen Zielpunkt. Ein weiteres Bilddetail begründete eine zweite Annahme: Etwas, das wie Radioantennen aussah, führte zu der Vermutung, daß es sich um das Kommunikationszentrum der Partisanenführung handeln müsse. Die Höhle in der Bergflanke indes, von der die Deutschen nichts wußten, war auf den Bildern nicht auszumachen. Und von Titos nächtlichem Ausweichquartier in Bastasi hatten die deutschen Aufklärer ebenfalls keine Ahnung.
Um ein Haar hätte die britische Abwehr das Unternehmen vereitelt. Gleich dreimal hatte deren Funkaufklärung in Bletchley Park, 70 Kilometer nordwestlich von London, durch die Entschlüsselung des deutschen Funkverkehrs von einer in Bälde anstehenden Operation erfahren. Am 18. Mai 1944 dechiffrierten die Briten einen Befehl der II. Gruppe des Luftlandegeschwaders 1, am folgenden Tag Gleitflugzeuge vom Flugplatz Sarajewo-Butmir nach Zirklach in der Oberkrain (Cerklje na Gorenjskem) zu verlegen. Am 21. Mai 1944 wurde ein Funkspruch dekodiert, daß die Sturzkampfflieger der I. Gruppe des Schlachtgeschwaders 2 sich bis 23. Mai 1944 mit ihren Maschinen von Rumänien nach Pleso bei Zagreb aufmachen sollten - „für einen befristeten Einsatz ab 25. Mai“. Ebenfalls am 21. Mai 1944 transkribierten die britischen Funkdetektive die Weisung der deutschen Luftraumkontrolleure aus Zagreb an die Flugplatzaufseher in Banja Luka, diese sollten „Unterkünfte für 200 Mann bereitstellen“. Tags darauf verwies ein abgefangener Funkspruch des deutschen Fliegerführers Kroatien auf eine Operation mit dem Decknamen „Rösselsprung“, ohne daß man in Bletchley Park sich darauf einen Reim zu machen wußte. Und es ging noch weiter: Am gleichen Tag dechiffrierten die Briten einen Befehl des deutschen Jagdführers Balkan, die II. Gruppe des Jagdgeschwaders 51 „Mölders“ für einen fünftägigen Sondereinsatz nach Zagreb zu verlegen. Zuletzt, am 24. Mai 1944, entschlüsselte die britische Funkaufklärung einen früheren Befehl, wonach die IV. Gruppe des Jagdgeschwaders 27 bis zum Abend des 23. Mai 1944 in Zagreb-Lucko sein sollte - „zur Verwendung bei zeitlich befristeten Operationen“. Dank der endgültigen Entschlüsselung der deutschen „Enigma“-Chiffriermaschine im Dezember 1942 hatten die Briten etliche Balkan-Puzzlestücke - aber sie ergaben kein Bild. In keinem der abgefangenen und entschlüsselten Funksprüche tauchten Hinweise auf Fallschirmjäger, Infanterie, Tito oder sein Hauptquartier auf. Und selbst wenn Bletchley Park die „Rösselsprung“-Pläne enttarnt hätte - um das Geheimnis zu schützen, daß die Briten „Enigma“ geknackt hatten, wurden die entschlüsselten Informationen nur an Armeehauptquartiere weitergegeben, nie aber an untergeordnete Stellen und schon gar nicht an eine Militärmission, die im Hinterland des Feindes operierte.12
Die Code- und Chiffren-Experten der Government Code and Cypher School, die die deutsche Rotor-Chiffriermaschine „Enigma“ geknackt hatten, verfügten über keine Anhaltspunkte zu Ort und Umfang der Operation. Erst drei Tage vor der Operation, am 22. Mai 1944, tat sich etwas: Als ein deutsches Aufklärungsflugzeug, ein Fieseler „Storch“, eine halbe Stunde lang in etwa 600 Meter Höhe über Drvar kreiste, zog die britische Militärmission bei Tito ihre Schlüsse. Oberstleutnant Vivian Street, der den in Kairo weilenden Brigadier Fitzroy Maclean vertrat und den Flieger beobachtet hatte, erwartete einen schweren Luftangriff auf das Städtchen am Unac. Tito warnte er vor der Gefahr eines baldigen Luftangriffs. Vorsorglich verlegte er das Hauptquartier der britischen Militärmission in das Einzelgehöft Prnjavor einen Kilometer südwestlich der Stadt. Die Amerikaner taten es ihm gleich und zogen nach Trniniæ Brijeg um, einen Kilometer südlich der Stadt. Die Russen blieben an ihrem Platz. Vier Gruppen von Titos Begleitbataillon wurden zum Schutz der Militärmissionen abgeordnet. Die Partisanen interpretierten die sich häufenden deutschen Aufklärungsflüge ebenfalls falsch. Sie nahmen an, daß die Flieger Ziele für spätere Bombardements ausmachen würden. Dennoch verstärkten sie ihre Sicherungs- und Verteidigungsmaßnahmen. An einen deutschen Überfall mit Fallschirmspringern und Gleitseglern glaubten sie nicht - denn so etwas hatte es im Kampf gegen die Tito-Partisanen noch nie