Zwangslektüre. Jochen Duderstadt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jochen Duderstadt
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783844251142
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colspan="2"> GÖTZ. (plötzlich hochdeutsch deklamierend) Ich bin ein freier Mann und nehme mir, was ich will. Wenn ihr mich kriegen wollt, holt mich. Dann stürz ich mich kopfüber hinunter! MARIA. Götz, sei vernünftig! (Frau Liebetraut kehrt zurück.) GÖTZ. Ich gehorche nur dem Bundespräsidenten. Und ihr blöden Kindergartentanten könnt mich im Arsch lecken. (Entsetztes Tuscheln unter den Kindern) MARIA.(zu Liebetraut) Moisch, er isch zu früh entwöhnt? LIEBETRAUT. Ha noi, der isch frühreif. MARIA. Schwätze kann er jedefalls. (Götz' Vater erscheint, grüsst die Damen flüchtig, greift seinen brüllenden Sohn wortlos vom Schrank und schleppt ihn hinaus.) LIEBETRAUT. Nur Charakter hat er koin. GÖTZ. (aus dem Hintergrund) FREIHEIT! MARIA. Früher wär so oiner Raubritter g'worde. LIEBETRAUT. Merk dirs Gesichtle. Den sähet m'r oines Tages im Fernsähn wieder. Als Ondernähmer oder Poliddiger.

      (Vorhang)

      Gotthold Ephraim Lessing: Nathan der Weise (1779/1783)

      Handlung

      Thema des Dramas sind Toleranz und aufgeklärter Humanismus als Ausweg aus dem Absolutheitsanspruch der drei Weltreligionen.

      Folgerichtig spielt das Stück in Jerusalem zur Zeit der Kreuzzüge. Judentum, Christentum und Islam prallen hier aufeinander.

      Nathan, ein reicher jüdischer Kaufmann, dessen Frau und sieben Söhne einem christlichen Progrom zum Opfer gefallen sind, hat das Waisenkind Recha als Pflegetochter aufgenommen.

      Eines Tages - Recha ist mittlerweile im heiratsfähigen Alter und Nathan gerade auf Geschäftsreise - fackelt jemand sein Haus ab. Recha wird von einem jungen Tempelherrn gerettet, der gerade aus der Gefangenschaft des Sultans Saladin entlassen worden ist. Der hatte ihn entgegen seiner Gewohnheit nicht hinrichten lassen, weil er Ähnlichkeit mit seinem toten Bruder hatte. Während es zwischen Recha und dem Tempelherrn zum ersten interreligiösen Flirt kommt, sucht Saladin das Gespräch mit Nathan. Nathan denkt, der Sultan wolle ihn anpumpen. Dabei geht es Saladin um Höheres, nämlich um die Frage, welche der drei Religionen "Die wahre" sei.

      Nathan will nicht ins Fettnäpfchen treten und erzählt die berühmte Ringparabel:

      In einer Dynastie wird ein Zauberring stets vom Vater auf den Lieblingssohn weitervererbt, um auf diese Weise schließlich bei einem König zu landen, dem alle drei Söhne gleich lieb sind. In seiner Not fertigt er zwei perfekte Duplikate. Die drei Söhne kriegen sich nach seinem Tode natürlich in die Wolle, weil jeder glaubt, er habe den echten Ring, dessen Zauberkraft darin besteht, beliebt zu machen, vor Gott und Menschen angenehm. Der Richter verweigert die Entscheidung, gibt aber den Hinweis, dass jeder der drei Söhne Gelegenheit habe, die Echtheit seines Rings durch praktizierte Menschlichkeit zu erweisen.

      Saladin begreift. Beide werden Freunde.

      Mittlerweile will der Tempelherr die schöne Recha heiraten. Klappt aber nicht, denn nach einigem hin und her stellt sich heraus, dass beide Geschwister sind. Und damit nicht genug: Der Tempelherr ist auch noch der Neffe Saladins. Als einziger, der nicht der Krypto-Großfamilie angehört, wird Nathan sozusagen als Seelenverwandter in den Clan aufgenommen. Und alle umarmen sich unter Tränen der Rührung.

      Deutung

      Jeder, der nach der Schulzeit die Erinnerungsreste des Deutschunterrichts zusammenzukramen versucht, wird auf die Assoziationskette "Lessing – Ringparabel - Religiöse Toleranz -Aufklärung" stoßen. Manche werden sich auch noch des Umarmungsfestes am Ende des Dramas erinnern, mit dem auch dem Schüler bzw. Theaterbesucher aus der letzten Reihe so sinnfällig klargemacht wird, dass wir, egal woran wir glauben, "irgendwo eine große Familie" sind.

      Dabei geraten nicht nur Al Hafi als Aussteiger und der Patriarch von Jerusalem als Fundamentalist in den Hintergrund, sondern auch alle religiösen und philosophischen Traditionen, die nicht für sich in Anspruch nehmen, an der Offenbarung eines einzigen Gottes teilzuhaben.

      Hier zeigt sich Lessings verborgene Tragik:

      Auf der einen Seite tritt er für eine vorurteilsfreie Menschlichkeit ein und wird durch seinen Königsgedanken, dass sich die Tauglichkeit einer Religion durch praktische Bewährung erweisen muss, zu einem der Vorläufer des Kritischen Rationalismus.

      Auf der anderen Seite betreibt er aber eine bedenkliche Beschränkung der religiösen Toleranz insofern, als er sie den drei Wüstenreligionen Judentum, Christentum und Islam vorbehält, also den drei monotheistischen Offenbarungsreligionen. Für all diejenigen, die trotz einer gewissen religiösen "Musikalität" das Gefühl nicht loswerden, unter einem leeren Himmel zu leben, ist in Lessings Familie kein Platz.

      Ist diese Kritik unhistorisch insofern, als sie den Bewusstseinsstand der Epoche ignoriert, in der Lessing wirkte? Wird Lessing mit dieser Kritik überfordert? Keineswegs. Es gab Vertreter der Aufklärung und auch Exponenten geistiger Überlieferungen, auf deren Schultern die Aufklärung steht, die einen umfassenderen Toleranzbegriff hatten. In Lessings exklusivem Club war dagegen nicht einmal für die sogenannten Deisten Platz, also die Angehörigen einer im 18. Jahrhundert einflussreichen Bewegung, die Gott nur als erste Ursache der Welt anerkennen wollte und meinte, dass auf der Welt nur die von Gott unbeeinflussten Kräfte der Natur walteten.

      Ist die Kritik deshalb ungerecht, weil ein Historiendrama als Parabel vereinfachen muss? Gebot nicht sogar die Struktur des Stückes, die Ausweitung der religiösen Toleranz auf die drei Religionen zu beschränken, die zur Zeit der Kreuzzüge relevant waren? Letzteres schon, doch beide Fragen sind vordergründig, denn die Auswahl des Stoffs und des historischen Ambiente ist ja schon das Ergebnis eines arg geschrumpften Toleranzverständnisses. Sonst hätte es nahegelegen, sich durch ein zeitgenössisches Drama der prallen Vielfalt der Weltreligionen, ihrer Verästelungen und ihrer Kritiker zu stellen, wie sie zur Zeit Lessings bestand.

      Gegen den Nathan lässt sich weiter einwenden, dass Lessing die Religionen eindimensional betrachtet. Er stellt allein auf die Sozialethik ab, also auf die Gabe des Rings, "vor Gott und Menschen angenehm zu machen".

      Auch ist die Familienmetapher einigermaßen halbherzig: Zu einem Wettstreit der Weltreligionen sollte auch die Möglichkeit gehören, dass sie sich wechselseitig befruchten, also voneinander lernen. Aber Recha und der Tempelherr können nicht heiraten. Sie sind Geschwister, und interreligiöse Blutschande findet bei Lessing nicht statt.

      Die Geschwisterschaft weist nur auf eine bereits vorhandene Bindung und Abstammung hin, und auch insofern ist das Bild schief, denn die Eltern von Recha (Judentum) und dem Tempelherrn (Christentum)