Interessanter ist gerade für die an Literatur Interessierten, wieso nichts mehr präsent ist.
Dafür gibt es, wie üblich, ein ganzes Ursachenbündel, aus dem einiges herausragt:
Da ist zum einen die Wirrnis und Unverständlichkeit der Handlung, des Stils und der Begrifflichkeit. Wie man etwa die Schüler in der späten Mittelstufe mit Götz von Berlichingen nerven kann, dessen Handlung ein einziges Kuddelmuddel ist und in dem Begriffe auftauchen, die kein Deutschlehrer erklären kann, jedenfalls nicht richtig (etwa "Urfehde schwören"), wird mir ewig ein Rätsel bleiben.
Hinzu kommt natürlich die Fremdbestimmtheit der Literatur, mit der die Schüler konfrontiert werden. Jeder Leser hat die Erfahrung gemacht, wie sich Bücher in sein Gedächtnis eingegraben haben, auf die er aus eigenem Interesse gestoßen ist.
Und schließlich, na klar, hat die Verbraucherseite im Klassenzimmer gemeinhin auch andere Interessen und Probleme als die deutsche Klassik.
Warum dann dieses Buch?
Den Schülern soll etwas an die Hand gegeben werden, was gleichermaßen Gebrauchs- und Unterhaltungswert hat. Ehemalige Schüler (und wer ist das nicht?) sollen Gelegenheit haben, ihre rudimentären Erinnerungen an die große deutsche Literatur aufzufrischen. Den Lehrern schließlich mag der Leitfaden, in dem ja viele Werke gegen den Strich durchgebürstet werden, als nebenwirkungsfreies Hausmittel gegen Betriebsblindheit dienen.
Inhalt und Interpretation sind jeweils übersichtlich und streng voneinander getrennt. Insofern kann der Leitfaden als eine Art konzentrierter Ersatz für "Königs Erläuterungen" (die hier freilich gar nicht benutzt wurden) herhalten. Die parodistische Einlage schließlich soll die Dichter und ihre Helden für kurze Zeit vom Sockel holen und den Leser ein wenig dafür entschädigen, dass es in der deutschen Hochliteratur so erbärmlich wenig zu lachen gibt.
Gegliedert ist das Ganze einigermaßen chronologisch, d. h. - von begründbaren Ausnahmen abgesehen - nach den Erscheinungs- bzw. Erstaufführungsdaten. Die ursprünglich geplante Untergliederung in Literaturepochen habe ich wohlweislich fallengelassen, um nicht in Teufels Küche zu geraten. Der Faust etwa vereint Elemente des Sturm und Drang, der Klassik und der Romantik, die Harzreise lässt sich ebenso gut unter die Romantik wie unter den Vormärz packen, und die Schöpfer des Michael Kohlhaas und des Siddharta passen sowieso in keine Schublade.
Für die Auswahl muss um Nachsicht gebeten werden.
Damit niemand glaubt, hier sollten die bedeutendsten Dichter und ihre größten Werke präsentiert werden, ist erläuternd hinzuzufügen, dass das wichtigste Auswahlkriterium die - zum Teil schon traditionelle - Bedeutung des Werks für den Deutschunterricht ist. Hier kommt also nicht das Beste zum Zuge, sondern das, was gemeinhin "durchgenommen" wird. Die "Judenbuche" und der "Hauptmann von Köpenick" gehören, ohne die Verdienste von Droste-Hülshoff und Zuckmayer auch nur im geringsten schmälern zu wollen, nicht gerade zur Weltliteratur, aber sie bieten sich wegen ihrer Leichtfasslichkeit für den Mittelstufenunterricht an. Mein persönlicher Geschmack hat bei der Auswahl kaum eine Rolle gespielt. Sonst hätte ich einige literarische Hervorbringungen sicherlich draußen gelassen. Welche, lässt sich an einigen Parodien ablesen. Aus Gründen der Selbstachtung musste ich allerdings auch meine persönliche Schmerzgrenze respektieren. Ich bitte deshalb um Verständnis dafür, dass ich mir Anna Seghers' 7. Kreuz und Plenzdorfs neue Leiden nicht auch noch aufgeladen habe.
Auf der anderen Seite mussten unter dem schrecklichen Zwang, eine Auswahl zu treffen, Opfer gebracht werden: Hölderlin, Hebbel, Grillparzer, Keller, Storm, C.F. Meyer, Thomas Mann, Musil, Hauptmann, Kästner, Grass und Handke sind nur einige von ihnen. Und die armen Lyriker von Rilke über Hoffmannsthal und Benn bis Celan sind ganz ausgeblendet worden, denn Inhaltsangaben sind bei Gedichten überflüssig und Interpretationen ähneln dem Versuch, einen Pudding an die Wand zu nageln.
Wer da meint, dass ein Nationalproporz gewahrt werden muss, mag zur Kenntnis nehmen, dass die Schweiz immerhin mit Frisch und Dürrenmatt vertreten ist. Die österreichischen Leser bitte ich um Pardon dafür, dass ich nur einen Kaukanier, nämlich Franz Kafka, gewürdigt habe. Wer einen DDR-Schriftsteller vermisst (Plenzdorf? Kunze?), muss sich mit Brecht begnügen. Der stammt zwar aus Augsburg, aber das besagt nichts für die Zuschreibung und Vereinnahmung von Literatur. Joseph Conrad ist ja schließlich auch einer der größten englischen Schriftsteller, obwohl er aus der Ukraine kam und Polnisch seine Muttersprache war.
Zitate aus den besprochenen Werken sind im Interesse besserer Erkennbarkeit ohne Anführungszeichen kursiv gedruckt.
Gotthold Ephraim Lessing: Emilia Galotti (1772)
Handlung
Hettore Gonzaga, Oberhaupt eines kleinen oberitalienischen Fürstentums, sieht zufällig in der Kirche die schöne Emilia und verliebt sich auf der Stelle in sie. Fortan hat er keine Lust mehr auf seine Mätresse, die Gräfin Orsina.
Dem geplanten Damentausch steht allerdings der Umstand entgegen, dass Emilia Galotti gerade den Grafen Appiani heiraten und mit ihm aufs Land ziehen will.
Der Prinz hat aber nun einen Kammerherrn namens Marinelli, der mit stillschweigender Billigung seines Chefs folgenden Plan ausheckt: Das Paar auf der Fahrt zur Trauung durch das als Räuberbande getarnte fürstliche Fußvolk überfallen, Appiani ermorden und Emilia in das Lustschloss des Prinzen entführen.
Der Anschlag gelingt. Emilia trifft den Prinzen im Lustschloss, ahnt aber noch nicht, wer hinter dem Überfall steckt. Erst nachdem auch die abgelegte Geliebte und Emilias Vater Odoardo eingetroffen sind und mit ihr gesprochen haben, geht ihr ein Licht auf. Sie sitzt in der Klemme. Einerseits verabscheut sie den Prinzen, andererseits merkt sie, wie empfänglich sie für seine Verführungsversuche ist (Verführung ist die wahre Gewalt).
Sie steht vor der Alternative zwischen Mord und Selbstmord, verwirft beide Lösungen und bittet ihren Vater, sie zu erstechen. Der tut es schließlich auch. Ehre gerettet, Tochter tot.
Prinz Gonzaga erkennt, was er angerichtet hat, aber das hindert ihn nicht, alles auf Marinelli zu schieben.
Interpretation und Kritik
Selbst auf die Gefahr hin, gleich alle Mediävisten unter den Lesern zu verärgern, muss gesagt werden, dass vor Lessing mit der deutschen Literatur nicht viel los war. Produziert wurden Minnelieder, dann eine Weile fast gar nichts, anschließend eine solide Bibelübersetzung (Luther), Bauernschwänke, derbe Geschichten, Barockopern und protestantische Kirchenlieder.
Lessing (1729-1781) lebte in der Zeit der Aufklärung, also jener vom Bürgertum getragenen geistesgeschichtlichen Epoche, die sich - nach einem berühmten Wort des Philosophen Kant - den Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit zum Ziel gesetzt hatte.
Die Germanisten unterscheiden zwischen drei Phasen der Aufklärung. Ihre letzte, die Spätaufklärung, ist zeitlich deckungsgleich mit der Zeit des "Sturm und Drang", zu dessen Vorläufern und Vorbildern Lessing zählte.
Der Sturm und Drang machte sich natürlich den Rationalismus der Aufklärung, die Befreiung des Denkens von religiösen Bindungen und die Frontstellung gegen fürstliche Willkür zu Eigen. Zugleich verstand er es, die frei gewordenen religiösen Kräfte an Weltliches zu binden. Die Säkularisierung (Verweltlichung) des Gefühls führte zu einer neuen Empfindsamkeit in der Literatur, zur Erfahrung der Einsamkeit und zur Überbetonung der Innerlichkeit.
Man kann also sagen, dass der aufklärerische Rationalismus nach außen hin mit einer irrationalen Innerlichkeit verschmolz.
Es fällt bei Lessing selbst - wie bei vielen anderen Dichtern - nicht