Natürlich war Jennifer ein Kind und spielte gerne, doch sie war auch ein sehr aufgeschlossenes und intelligentes Mädchen, welches Demont längst ans Herz gewachsen war. Das Kind tat, als beiße es in das Plastik, um den Goldgehalt zu prüfen und nickte dann. „Scheint okay zu sein.“
„Dann solltest du mir jetzt den Schatz anvertrauen, den du da in der anderen Hand hältst.“
„Nur, wenn ich dann nach unten darf.“
„Ich bin wirklich hungrig, junge Lady.“
„Ich soll also gnädig sein?“
Demont deutete eine Verneigung an. „Wenn es beliebt?“
„Es beliebt. Ich werde sonst sicher von dir aufgefressen. Ich kann nämlich hören wie dein Bauch knurrt.“
Sie reichte ihm die Tüte, die Demont mit gespieltem Erstaunen öffnete. „Ah, welcher Schatz.“ Er nahm das Croissant heraus und beäugte es von allen Seiten. „Du musst wissen, ich bin tatsächlich etwas hungrig.“
Das Spiel machte ihr Freude. Jeden Abend, wenn sie nach Hause ging, gab Demont ihr eine Münze mit auf den Weg. Das Mädchen brachte ihm am darauffolgenden Tag stets eines der Croissants mit, die in der Nähe der Bibliothek von einem leibhaftigen Bäcker hergestellt wurden. Sie waren ein recht kostspieliges Vergnügen, doch Demont hatte französische Wurzeln und war glücklich, dass es ein Stück Heimat auf den Mars geschafft hatte.
„Kann ich jetzt runter?“, hakte Jennifer nach. „Heute kann ich nicht so lange bleiben, musst du wissen.“
Demont schob das Croissant zurück und nickte. „Natürlich, Jenni. Habe ich dir je einen Wunsch abgeschlagen?“
„Ja“, antwortete sie ohne Zögern. „Als ich die Dateien von der Piroga anschauen wollte.“
„Die sind auch nicht für deine hübschen Augen gedacht“, mahnte der Bibliothekar. „Sie waren falsch einsortiert und du hast sie nur deshalb gefunden.“
Jennifer war sehr zuverlässig. Trotz ihrer jungen Jahre bewies sie die Sorgfalt eines echten Bibliothekars und Pierre Demont ließ dem Kind ziemlich freie Hand bei den öffentlichen Dateien. Aber die Dokumentation über die alte Piroga war wirklich nichts für Kinderaugen. Kein Mensch sollte die Opfer eines schweren Reaktorunfalls ansehen müssen.
Pierre Demont nickte einem der Angestellten zu, der für ihn die Position am Empfang einnahm und geleitete Jennifer zu einem der Lifte. Die Konstruktion hatte kaum noch etwas mit denen vergangener Tage gemein. Zwar war es noch nicht gelungen, die Antischwerkraft zu entdecken, dafür konnte man jedoch mit der Shriever-Technologie künstliche Schwerkraft erzeugen. Dank ihr waren die Schwerelosigkeit in Raumfahrzeugen oder die Beharrungskräfte eines Manövers kein Problem mehr, und die Technik hatte vielfältige Anwendungen im Leben der Menschen gefunden. So auch in dem Lift, den die beiden nun betraten. Die Anwahl des gewünschten Stockwerks polte die Shriever-Platten entsprechend, die im Liftschacht angebracht waren, und schon sanken beide rasch nach unten.
„Heute könntest du mir helfen, Jenni“, bekannte Demont. „Wir haben ein paar alte Datenträger gefunden, die aus den Jahren vor dem kolonialen Krieg stammen.“
„Ha, lass mich raten, Monsieur Pierre… Alter Tri-Code?“
„Viel schlimmer, es ist noch alles im komprimierten Binär-Code gespeichert.“ Jennifer klatschte begeistert in die Hände und er musste lachen. „Ich wusste, dass dir das gefallen würde.“
Die Menschen waren die Verschlüsselungen und Komprimierungsraten moderner tetronischer Technologie gewohnt. Kaum jemand kannte noch jene Programme und Codes, mit denen man einst in das Computerzeitalter gestartet war. Die Bibliothek war einer der wenigen Orte, an denen noch Geräte vorhanden waren, mit denen man die alten Speichermedien auslesen und konvertieren konnte. Dazu brauchte man Fingerspitzengefühl und die kleine Jennifer war diesbezüglich ein Naturtalent. Demont übertrieb keineswegs mit der Behauptung, das Mädchen könne ihm helfen.
„Was ist denn auf den Datenträgern drauf?“, fragte sie interessiert.
„Ich weiß es nicht genau, da wir die Datenträger noch nicht überprüft haben. Den Beschriftungen nach sind es Logbücher der Raumkommunikationszentrale der einstigen Mars-Föderation. Wirklich altes Zeug und wahrscheinlich sehr unwichtig.“
Jennifer seufzte. „Na ja, es hat wenigstens ein bisschen mit Raumschiffen zu tun.“
Der Lift hielt und sie befanden sich jetzt auf der zweiundzwanzigsten untermarsianischen Ebene. Scanner und Individualtaster überprüften beide, bevor sich die Türen der Kabine öffneten. Demont hatte persönlich dafür gesorgt, dass Jennifer begrenzten Zugang zu Bereichen erheilt, die dem normalen Besucher verwehrt blieben. Nicht, weil sie Geheimmaterial enthielten, sondern weil man nicht riskieren wollte, dass Daten durch unsachgemäße Behandlung verloren gingen. Die Achtjährige würde keinen Fehler begehen und Pierre Demont zuverlässig um Hilfe bitten, wenn sie auf ein Problem stieß, welches sie nicht selbst lösen konnte. Demont staunte immer wieder über ihre Begabung und ihr Wissen, und war sich sicher, sie eines Tages als Captain eines Navy-Schiffes erleben zu können.
Sie passierten eine Klimaschleuse und betraten einen nüchternen Archivraum. Mehrere Regale, zwei Stühle und ein Tisch, mit einer Reihe modernster und veralteter Datengeräte, bildeten das Mobiliar. Auf dem Tisch stand eine Kunststoffkiste, deren Versiegelung Demont öffnete.
„Wann musst du denn nach Hause, junge Lady?“ Demont lächelte erneut. „Ich sage dir lieber Bescheid, denn wie ich dich kenne, vergisst du wieder die Zeit.“
„Keine Sorge, ich habe ein Memo auf meinem Mini-Comp.“ Sie hob mechanisch das Handgelenk und beugte sich über die Kiste. „Ui, das sind ja noch uralte Kristallträger.“ Sie hob einen der glasmurmelartigen Speicher aus seiner Schutzhülle. Sag mal, Onkel Pierre, kann man die verkaufen, wenn die Daten übertragen sind? Das sind echte Museumsstücke und ich weiß, dass es dafür einen Sammlermarkt gibt.“
Das war Demont neu und es irritierte ihn ein wenig, dass sich die Kleine plötzlich so geschäftstüchtig zeigte. Er war Traditionalist und folgte dem Standpunkt, dass Kinder auch Kinder sein sollten. Sie wurden früh genug mit der Wirklichkeit des realen Lebens konfrontiert. Dann musste er über sich selber lachen. Immerhin spannte er das Mädchen ja für eine durchaus ernsthafte Arbeit ein. „Du brauchst nicht jeden Bit zu prüfen. Es wäre wichtig, dass du feststellst, ob die Beschriftungen der Schutzhüllen mit den Inhalten der Speicher identisch sind. Einlesen, konvertieren und sichern können wir später machen.“
„Okay.“
Sie war schon ganz in ihr liebstes Hobby vertieft und Pierre Demont schüttelte auflachend den Kopf und fuhr dann wieder in die Empfangsebene hinauf.
Demont war ein durchaus beschäftigter Mann. Es lag in seiner Verantwortung, den Bestand der Bibliothek zu erhalten und ihn zu erweitern. Dazu gehörte auch die Synchronisation mit den zentralen Datenarchiven der Sky-Navy und der Sky-Cavalry. Die Schiffe der Marine verfügten zudem noch über eigene Datenbanken, die aber natürlich nur einen Bruchteil dessen bieten konnten, was im Archiv der Bibliothek vorhanden war. Zu Demonts Aufgabe gehörte es daher, mit Offizieren der Navy festzulegen, welche älteren Datensätze, bei Updates der Schiffs-Tetroniken, eventuell gelöscht und welche aktuellen Daten hinzugefügt werden mussten. Zusätzliche Arbeit verschaffte die Tatsache, dass fast jeder Raumflug auch seinerseits neue Informationen brachte, die ins Archiv einfließen mussten. Vieles wurde von Hochleistungs-Tetroniken erledigt, doch letztlich blieb der Mensch der entscheidende Faktor.
Nach ungefähr zwei Stunden meldete sich sein Mini-Comp. Auf dem holografischen Display erkannte er die Identifikation und musste unwillkürlich lächeln, als er die Verbindung herstellte. Jennifers Mutter erkundigte sich nach dem Befinden ihrer Tochter. Eine wirklich nette Person, auch wenn sie kein Verständnis für die Leidenschaft ihrer Tochter aufbrachte. Er versicherte ihr, dass das Mädchen pünktlich zu Hause sein werde und widmete sich erneut seiner Arbeit.
Bis