Mars-Central entwickelte sich dabei zur neuen Metropole der Menschheit und hätte keinen Vergleich mit den Früheren auf der Erde scheuen müssen. Inzwischen war die Stadt das unangefochtene Zentrum der vereinten Menschheit, denn hier war der Sitz des Hohen Rates, jenes Gremiums aus Vertretern aller von Menschen besiedelten Kolonien, die demokratisch über die Geschicke ihrer Bewohner entschieden.
Zu Beginn bestand Mars-Central aus bescheidenen Bauten, die innerhalb der Hülle von durchsichtigen Schutzkuppeln erbaut wurden. Die Grenzen der dieser Kuppel waren nun schon lange überschritten. Gewaltige Bauten aus Bauschaum und Klarstahl erhoben sich in den Himmel, mit grazil wirkenden Tunnelbrücken verbunden. Parks und Wasserflächen boten Entspannung und Erholung für die zwei Milliarden Menschen, die hier lebten und arbeiteten. Die Marsianer bevorzugten es bunt und verspielt. Ihre Wohnbauten zeigten sich in verschiedensten Farbkombinationen. Man liebte dekorative Elemente oder das, was die Bewohner darunter verstanden. Es gab Balkone, Erker, Säulen und Figuren, die es leicht machten, die Gebäude zu unterscheiden. Allerdings führte diese Vielfalt gelegentlich auch für Verwirrung, vor allem bei jenen Menschen, die nicht ständig in der Stadt lebten. Das tetronische Leitsystem der Stadtverwaltung ermöglichte jedoch eine schnelle Orientierung.
Im Zentrum der Stadt ragte die öffentliche Zentralbibliothek auf. Ein schmucklos erscheinender Turm, der sich nach oben leicht verjüngte und in schlichtem Weiß gehalten war. Ein zartblaues Band zog sich, einer Schlange ähnelnd, um das Bauwerk in die Höhe. Auf ihm war, in schlichten weißen Grafiken und Symbolen, die Geschichte der Menschheit dargestellt. Von Anbeginn bis in die Neuzeit. Wer die Darstellung der gegenwärtigen Epoche studieren wollte, musste allerdings Holografien oder einen Schwebeanzug nutzen, denn hier befand sich das Schlangenband in einer Höhe von knapp zwei Kilometern.
Das gesammelte Wissen der Menschheit war hier archiviert. Die meisten Daten wurden in hochmodernen Tetroniken gespeichert. Sie konnten als holografische Projektion aufgerufen werden oder man benutzte sein Implant. Das Implant bestand im Wesentlichen aus einer Daumennagelgroßen Tetronik und wurde dicht hinter dem Ohr eingepflanzt. Es ersetzte, gemeinsam mit den Transmittern des öffentlichen Netzes, die einstigen Kommunikationsmittel. Da der Frequenzbereich begrenzt war, schränkte das öffentliche Netz die Reichweite der Implants ein, so dass eine Verbindung, über mehr als ein Dutzend Meter, nur über die Vermittlung des öffentlichen Netzes möglich war. Implants waren auf dem Mars außerordentlich beliebt, bei den Streitkräften des Direktorats Pflicht, jedoch auf den neuen Welten nur selten zu finden.
Wie die meisten Bibliotheken, so gehörte auch die von Mars-Central nicht zu den Publikumsmagneten. Hier war eigentlich nur zu finden, wer einen Arbeitsplatz in der Bibliothek innehatte, etwas recherchieren wollte oder durch einen Schulungsbesuch dazu gezwungen wurde. Ein direkter Besuch war auch nicht erforderlich, da die Daten über das tetronische öffentliche Netz abgerufen werden konnten. Ausnahmen bildeten allerdings jene Informationen, die noch nicht in den Tetroniken gespeichert waren oder die der Öffentlichkeit nicht zugänglich gemacht wurden. Bibliothekare, Archivare und Restauratoren waren unermüdlich damit befasst, uralte Dokumente zu scannen oder die Inhalte veralteter Speichermedien auf moderne Datenkerne zu übertragen. Noch immer gab es eine unglaubliche Vielfalt an Daten zu sichern, damit sie der Menschheit erhalten blieben. Es waren Daten aus privaten und öffentlichen Archiven, und es waren Daten aus dem Archiv der Streitkräfte. Zwar legte das Direktorat großen Wert auf die Transparenz seiner Aktivitäten, dennoch wurden viele Informationen als Geheim eingestuft. Der vergangene koloniale Krieg und die Sabotageaktionen während der Rettungsmission für die Hanari hatten gezeigt, wie gefährlich es sein konnte, militärische Informationen ohne Einschränkung freizugeben.
Der koloniale Krieg zeigte noch immer gewisse Auswirkungen. Die neuen Welten legten großen Wert auf ihre Eigenständigkeit und so war der Hohe Rat weniger Regierung, als vielmehr ein Gremium, welches gemeinsame Richtlinien und Gesetze erließ, und nur mit seinen Beschlüssen eingriff, wenn es zu Unstimmigkeiten kam oder das „allgemeine Interesse“ bedroht wurde, wie dies beim Auftauchen der schwarzen Bruderschaft (siehe Sky-Troopers 3 – Piraten!) der Fall gewesen war.
Der koloniale Krieg war aus dem Freiheitsstreben der Menschen heraus entstanden. Neben der Besiedlung des Mars hatten sich die Menschen auch auf verschiedenen Stützpunkten im solaren System und einer Reihe von Kolonialwelten eingerichtet. Die präsidiale Mars-Föderation war durch den Bau der Evakuierungs-Archen und die finanzielle und materielle Unterstützung der Kolonisationsprojekte hoch verschuldet. Sie erhob Steuern von den Kolonien. Dies führte zu Spannungen, die im kolonialen Krieg mündeten, der mit typischer menschlicher Brutalität geführt wurde. Als die Mars-Föderation eine Waffe entwickelte, mit der eine besiedelte Welt vollkommen vernichtet werden sollte, kam es jedoch zu einer Meuterei in der Föderations-Marine, der sich auch Kampfschiffe der Kolonien anschlossen. Die vereinten Streitkräfte sorgten für den Sturz der Mars-Föderation, der das demokratische Direktorat des Hohen Rates folgte. Als gemeinsame Streitkräfte entstanden die Sky-Navy und die Friedenstruppe der Sky-Cavalry. Dies lag nun fast hundertfünfzig Jahre zurück, in denen Frieden auf den Welten der Menschen herrschte.
Inzwischen war man auch auf intelligentes nichtmenschliches Leben gestoßen. Leben, welches durch eine bald entstehende Nova bedroht war. Die Menschheit hatte eine einzigartige interstellare Rettungsaktion durchgeführt und das Volk der Hanari zum Freund gewonnen (Anmerkung: siehe Roman „Sky-Troopers“).
In der öffentlichen Bibliothek von Mars-Central wurde all dieses Wissen bewahrt und der gesamten Menschheit verfügbar gemacht, mit Ausnahme jener Informationen, die vom Hohen Rat als geheim eingestuft wurden.
Jennifer war acht Jahre alt und noch zu jung, um ein Implant zu tragen. Das Mädchen musste sich mit dem tragbaren Mini-Comp begnügen, der am Handgelenk getragen wurde. Es war ein Multifunktionsgerät, das einen Kommunikator und eine kleine Tetronik umfasste.
Jennifer war häufig in der Bibliothek anzutreffen. Während ihre Altersgefährten die verschiedensten Freizeitangebote in Anspruch nahmen, trieb sie sich lieber im „Turm des Wissens“ herum. Sie interessierte sich leidenschaftlich für alles, was mit der Sky-Navy in Verbindung stand. Ihr Berufswunsch wankte augenblicklich noch zwischen Tierärztin und Raumschiff-Kommandantin, aber das Pendel schlug immer weiter zu Gunsten der Sterne aus.
Das Mädchen interessierte sich vor allem für jene Daten, die sich noch nicht auf den tetronischen Datenkernen befanden. Informationen aus den Anfängen der interstellaren Raumfahrt, die noch auf uralten elektronischen Suprachips darauf warteten, konvertiert und transferiert zu werden. Geheimnisse waren dabei kaum zu erwarten, aber es gab alte Schiffspläne und Logbücher, die das Kind faszinierten.
Pierre Demont war der Chef-Bibliothekar von Mars-Central und er freute sich über jedes Kind, welches Interesse an der Arbeit des Archivs zeigte. Für ihn war die kleine Jennifer schon eine alte Bekannte. Es gab kaum einen Wochentag, an dem sie nicht kam und Demont hätte sich ernstlich gesorgt, wäre das Mädchen nicht auch an diesem Tag erschienen.
„Hallo, Jenni“, grüßte er sie mit einem freundlichen Lächeln, als sie in die von Licht durchflutete Empfangshalle trat. „Kommst du mich wieder besuchen?“
„Nur, wenn ich auch wieder nach unten darf.“ Jennifer deutete instinktiv zu den Liftröhren.
„Du weißt, du darfst nur dann nach unten, wenn du mir auch etwas mitgebracht hast.“ Das Lächeln von Demont vertiefte sich und er machte ein gezielt erwartungsvolles Gesicht, als er sich ein wenig vorbeugte, um besser über den Tresen blicken zu können. „Hast du mir denn etwas mitgebracht?“
„Nur wenn du eine Goldmünze für mich hast.“ Die Achtjährige hielt die Tüte in beiden Händen und legte den Kopf leicht zur Seite. „Hast du?“