„War’s das?”
Es klingt fast kalt, wie Inga die Frage an Kallweit stellt. Malvoisins Autorität scheint sie innerhalb des Dienstgebäudes nicht zu interessieren.
„Sie fragt gar nicht wo und wann und wie es passiert ist. − Und ihre Augen haben etwas Trauriges. Sie hat bestimmt keinen Freund. Wäre sie verliebt, würden ihre Augen leuchten.”
Malvoisin erinnert sich sehr genau an die glänzenden Augen seiner Maren, als sie ihr erstes Liebesfeuer durchlebten − und an ihr Leuchten bei jeder Auffrischung. Nein, dieses Mädchen ist keinem geliebten Mann zugetan.
„Nein, geh’ bitte mit dem Herrn Kommissar zum Hochsitz und löse Andreas ab. Er hat einige Fragen zu beantworten.”
„Okay.”
Inga, die einen roten Dienstbadeanzug trägt, geht flugs zurück in den Nebenraum, holt sich eine rote Jacke, streift sie über und kommandiert: „Gehen wir.”
Kallweit und Malvoisin sehen sich an und Malvoisin wiederholt: „Gehen wir.”
*
Vor dem DLRG-Gebäude flanieren viele Urlauber in beiden Richtungen hin und her. Kinder betteln um Eis oder „Mami, krieg’ ich was Süßes? Der Bonbonladen is’ doch gleich da vorn.” „Du hattest gestern schon eine ganze Tüte Weingummi! Selber schuld, wenn schon alles weg ist.”
Das einsetzende Geplärr erinnert Malvoisin in Dankbarkeit, daß es noch ein paar Jahre dauern wird, ehe Enkelkinder ihn so angehen werden und mit Schaudern, daß die Wünsche seiner Kinder heute leicht über das Volumen von süßen Tüten hinausgewachsen sind. Dennoch muß er grinsen.
„Bleiben wir jetzt hier stehen und sehen den Gästen zu?”
Inga wirkt etwas ungehalten.
„Oh, nein. Ich wurde nur gerade an etwas erinnert. Aber sagen Sie bitte, wann haben Sie Malte Kröger zum letzten Mal gesehen, ich meine lebend?”
„Lebend? Warten Sie …” Inga überlegt kurz. „Das war gestern beim Schichtwechsel.”
Sie prüft Malvoisons Gesichtsausdruck, ob er mit der Antwort zufrieden ist, und der verbale Schuß ins Blaue kommt augenblicklich.
„Und tot?”
„Bitte?”
„Ja, tot. Tatsächlich ohne Telephonanschluß.”
„Wie kommen Sie denn darauf?”
„Ja, wie komme ich denn darauf?” Malvoisin setzt eine selbstverwunderte Mimik auf. „Sie können ihn ja gar nicht gesehen haben, tot meine ich, sonst hätten Sie es sicher gleich gemeldet, nicht?”
„Eben, hätte ich wohl.”
“Mit der Deern stimmt ‘was nicht. Die ist so gelassen.”
„Aber wollten wir nicht den Hochsitz ablösen?”
„Ich nicht, aber Sie sollen, damit ich den Hochsitz-Sitzenden etwas fragen kann. Zeigen Sie ihn mir bitte, den Hochsitz meine ich. Den, der darauf sitzt, finde ich dann schon selber.”
„Witzbold. Aber gern. Gehen können Sie allein?” Inga sieht ihn mit einem spöttischen Lächeln an. „Die Krückstockprüfung habe ich mit 40 mit Auszeichnung bestanden,” spöttelt er, „hab’ ihn heute nur vergessen. Aber vielleicht geht’s auch so.” Ehe Inga etwas sagen kann, setzt ihr Malvoisin seinen Rembrandt auf, macht einen Handstand und „läuft” auf den Händen bis zur Promenadenkante, macht einen Überschlag in den Sand und dort einen eleganten Spagat. Hinter ihm wird von erstaunt stehen gebliebenen Urlaubern applaudiert.
Ein Vater ermahnt seinen kleinen Sohn: „Siehst Du, das schafft man, wenn man regelmäßig trainiert.” „Kann das bis nach den Ferien warten?”
Malvoisin steht auf, klopft sich den Sand ab und fragt die verdutzt dreinschauende Inga mit der Vorbemerkung: „Prima, es geht noch. − Wo ist denn nun der junge Mann?” Er nimmt ihr seinen Hut wieder ab und setzt ihn auf.
„Äh, ja, da vorn.”
Sie zeigt die Richtung an, kann noch immer nicht glauben, was sie da gerade gesehen hat und stapft durch den Sand weiter.
Am Hochsitz faßt Inga einem jungen Rettungsschwimmer an die nackten Füße, um auf sich aufmerksam zu machen: ihr Kollege hat etwas mit dem Fernglas fixiert und zum Funk gegriffen: „Sven, bist Du mit dem Boot gerade in der Nähe? − Höhe Wachtturm Südstrand? Dann gib Gas! An der weißen Boje kämpft einer − Danke. Verstanden.” Er sieht herunter. „Inga, hast Du nicht mitbekommen? Notfall, ins Wasser mit Dir. Weiße Boje geradeaus.” Inga will gerade ihre Jacke abwerfen und losrennen, als zwei junge Männer in DLRG-Badehosen mit Rettungsmitteln am Hochsitz vorbeistürmen und ins Wasser hechten. Gerade als die Hochsitzwache etwas sagen will, stutzt sie wieder, springt vom Sitz herunter, wirft die Jacke ab und stürmt ihrerseits ins Wasser. Inga und Malvoisin verfolgen den Einsatz aufmerksam. Im Hintergrund hat das DLRG-Boot den gemeldeten Notfall erreicht, auch die beiden Rettungsschwimmer sind kurz vor ihm. Derweil kommt der junge Mann mit einem kleinen nackten Jungen, vielleicht fünf Jahre alt, auf dem Arm aus dem Wasser. Der Lütte war von einer kleinen Welle umgeworfen worden, die der Rest der Wasserteilung eines weit draußen vorbeifahrenden Fährschiffes war; es hatte ihn über eine für ihn zu tiefe Stelle getrieben, wobei er etwas Seewasser geschluckt und sich im übrigen nur erschrocken hatte. Als er seine aufgeregt herbeieilende Mutter sieht, steht er weinend da und streckt ihr seine Ärmchen entgegen. „Oh mein Kleiner, ich hab’ Dir doch gesagt, daß Du nicht so weit hineingehen sollst, wenn ich nicht bei Dir bin.”
Sie nimmt das heulende Elend auf den Arm, geht tröstend mit ihm weg und vergißt ganz, sich bei dem Rettungsschwimmer zu bedanken. Der geht tropfnaß auf Inga und Malvoisin zu.
„Tschuldigung, was wolltest Du?” Er schüttelt seine blonde Mähne aus. Malvoisin kneift ein Auge, hat etwas Ostsee abbekommen.
„Ich? Gar nichts.” Inga deutet auf Malvoisin. „Der Herr Kommissar von … Wie noch mal?” „Malvoisin, Kripo Lübeck.”
Inga verzieht sich auf den Hochsitz, nachdem sie ihre Jacke wieder übergezogen hat. Die Sonne brennt ganz ordentlich.
„Kripo?”
Der junge, etwa 20jährige Retter holt tief Luft. Für einen kurzen Augenblick kommen seine wohlgeformte Brustmuskulatur und sein Waschbrettbauch besonders gut zur Geltung. Er atmet aus und stemmt die Arme in die Seiten. „Womit kann ich Ihnen helfen?”
„Sie kennen einen Malte Kröger?”
„Ja, sicher, mein Stubengenosse, hier im Quartier. Was ist mit ihm?”
Der junge Mann sieht Malvoisin in einer Mischung aus Überraschung und kritischer Prüfung an. „Kripo? Hat er ‘was ausgefressen? Wo ist er?”
Der junge Mann schaut um sich, als erwarte er, den Angesprochenen im Strandgewusel zu entdecken.
Malvoisin faßt sein Gegenüber ernsten Gesichtes fest in den Blick.
„Er ist tot. Heute morgen im Strandabschnitt Horch nahe der Brücke in einem Strandkorb aufgefunden.” Es geht wie ein Schlag durch den Körper des Blonden. Der junge Mann zeigt ungläubiges Entsetzen. Er hatte den Auftrieb am Morgen nicht mitbekommen.
„Nein, das muß ein Irrtum sein. Malte kann nicht tot sein.” Er schwankt, fängt sich, rudert abwehrend mit den Armen. „Nein, Malte doch nicht. Er ist doch kerngesund und kräftig. Das kann nicht sein.”
Drumherum laufen Strandgäste, als wäre nichts besonderes passiert. Eine junge Frau kommt aus dem Wasser, geht zu einem Strandkorb gleich neben den beiden und entledigt sich ihres nassen Bikinis. Trocknet sich ab und schert sich den Teufel ob ihrer Nacktheit, einer