Das Haus, von dem dieses Buch handelt, ist im 3. Wiener Gemeindebezirk gestanden. Ich habe 21 Jahre in diesem Haus gewohnt und nichts von dem, was ich darüber berichte, ist erfunden. Ich habe lediglich die Namen geändert, da vermutlich nicht alle Beteiligten sämtliche sie betreffenden Geschichten einer breiteren Öffentlichkeit preisgeben wollen und sogar manche von ihnen einiges, das ich zur reinen Erbauung oder auch Aufklärung des Lesers in dieses Buch aufgenommen habe, als Rufschädigung empfinden könnten.
Die Anonymität, die ich daher den handelnden Personen großzügig verleihe, entspringt meinem Taktgefühl mindestens ebensosehr als der Angst vor rechtlichen Folgen!
Letzteres hat mich dazu bewogen, auch denjenigen, die schon verstorben sind, ebenfalls eine andere Identität zu verleihen.
EINLEITUNG oder Das Klosett als zentrales Element der abendländischen Wohnkultur
1. Das Haus
Das Haus, um das es geht, war schon zu dem Zeitpunkt, als ich es zum erstenmal betrat, ein Anachronismus. Und zwar deswegen, weil es dem hohen Zweck, den jedes Stück Eigentum, also auch ein Haus, besitzt, nämlich seinem Besitzer etwas einzubringen, eigentlich nicht genügte. Mit anderen Worten, die Eigentümer verdienten nicht viel damit, hatten dafür aber jede Menge Ärger. Ein besonderes Geschäft war es nicht, dieses Haus in der Schützengasse.
Das war vermutlich nicht immer so. Gebaut wurde dieses Haus meiner Einschätzung nach irgendwann in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts, als die voranschreitende Industrialisierung Wiens Massen von Arbeitern erforderte, die ja auch irgendwo wohnen mußten. In den 2-Zimmer-Wohnungen dieses Hauses tummelten sich sicherlich keine illustren Persönlichkeiten, mit denen das Wien der Jahrhundertwende gerne in Verbindung gebracht wird, sondern eher schlecht ernährte und schlecht gekleidete Gestalten, wie sie in Petzolds Buch "Das rauhe Leben" dargestellt werden. Das Haus in der Schützengasse war nicht für wohlbestallte Bürger gebaut worden, auch nicht für Kulturschaffende, sondern für das Salz der Erde: Das Proletariat.
Das Haus war ungefähr 20 Meter breit und ganze 5 Meter tief, mitsamt den Außenmauern. Es hatte etwas von einer großen aufgestellten Schokoladetafel an sich. In der Mitte war die Wendeltreppe, die in jedem Stockwerk in einen ca. 2 Quadratmeter großen Treppenabsatz mündete, von dem sich 2 Türen in die Wohnungen öffneten. In jedem Stockwerk befanden sich 2 Wohnungen, bestehend aus einem Vorraum, der gleichzeitig Küche war, und von dem/der aus man in eines und durch dieses in ein zweites Zimmer gelangte. Auf der einen Seite waren beide Zimmer gleich groß, auf der anderen – auf der ich wohnte – war das hintere halb so groß wie das vordere: ein sogenanntes Kabinett. Die kleinere Wohneinheit hatte insgesamt 33 Quadratmeter, die größere 41.
2. Das Klosett
Normalerweise hatten Häuser dieses Alters und dieser Ausstattung die Toiletten am Gang, und oft eines für mehrere Wohnungen. Das führte zu ständigen Reibereien zwischen den Parteien, die ein und dasselbe Häusl benutzen mußten. Einmal ließ der eine das Licht brennen – das alle gemeinsam bezahlten –, dann benützte einer das Klopapier vom anderen, dann wiederum war das Klo zugeschissen und keiner wars gewesen, wollte es daher auch nicht putzen, usw. usf.
Ein Freund von mir mußte auf Anweisung seiner Klo-Mitbenutzer vor dem Verrichten größerer Geschäfte zu diesem Zweck bereitliegende Zeitungsausschnitte in die Klomuschel legen, damit selbige durch seine Geschäfte unberührt und dadurch das Klobürstl scheißefrei blieb! Er bekam diesbezüglich genaue Anweisungen von seiner Klo-Teilhaberin. Diese, eine ältere Frau mit sozialdemokratischen Überzeugungen (die auch noch einen Mann hatte, aber die Klo-Verhandlungen liefen ausschließlich über sie ab), hatte ihn erst nach langem Hin und Her in „ihr“ Klo aufgenommen, nachdem sie ihn zunächst in das andere Klo am Gang verbannen wollte, das von einem älteren Herren adeliger Abstammung benützt wurde. „Scheißens ihm nur eini in sein Klo, dem Herrn Baron! Der braucht net glauben, daß er was Besseres ist!“ ermunterte sie ihn zum Klassenkampf. Der ältere Herr versuchte über die Klassensolidarität, meinen Freund aus seinem Häusl loszuwerden: „Schauen Sie, Herr Berger, wir, unter Akademikern, können ja offen reden: Ein alter Mann braucht ein eigenes Klo!“ So wurde mein armer Freund zum Pingpong-Ball, an dem sich die weltanschaulichen und herkunftsmäßigen Gegensätze seiner beiden Nachbarn sozusagen einen Schlagabtausch lieferten. Solange, bis sich die Sozialdemokraten seiner erbarmten, nachdem ihn die Frau in die hausüblichen (oder eher kloüblichen) Sitten eingeweiht hatte. Weißt du, sagte er seufzend, als er mir das alles erzählte, ich mache halt aus der Not eine Tugend. Aus den Zeitungsausschnitten, die immer fertig und in der richtigen Größe dort liegen – die Sozialdemokraten sorgten immer für ausreichende Mengen –, suche ich mir die vom Staberl(1) heraus und auf die laß ich dann was fallen, was meiner Meinung über ihn den adäquaten Ausdruck verleiht!
Die Touristen, die Wien Jahr für Jahr mit ihrer werten Anwesenheit beglücken, erfreuten sich an den Fassaden der Zinshäuser, der berühmten Altbausubstanz Wiens, stießen Schreie des Entzückens aus: "oh, isn't it wonderful!!" und hatten natürlich keine Ahnung davon, was in den hübschen Häusern für Klokriege tobten.
Das alles blieb den glücklichen Bewohnern der Schützengasse erspart. Das Haus war vermutlich von Anfang an zu klein für dergleichen Luxus. Beim Stiegenhaus wurde so gespart, daß für die Klos kein Platz mehr war. Also mußte man sie notgedrungen in die Wohnungen verlegen. Die elegante Lösung dieses Dilemmas bestand in einem Holzkasten in der Küche, der das Klo beherbergte. Ein Freund von mir verglich ihn mit einem aufgestellten Sarg: Bei der Amelie geht man immer in einen Sarg hinein, wenn man pinkeln muß!
Dieses Klo war, wie man sich vorstellen kann, auch nicht gerade geräumig angelegt. Die Mauer war zu einer Art Gebetsnische ausgehöhlt, in die die Klomuschel hineingepfropft war. Selbige stand in rechtem Winkel zur Eingangstüre des "Sarges". Diese Türe des Holzkastens hatte in geschlossenem Zustand eine Entfernung von ca. 2 Zentimetern zur Klobrille, als ich in die Wohnung einzog. Damals stand das Haus bereits seit 90 oder 100 Jahren. Seither hatten also alle, die dieses Klo benützten, entweder bei offener Tür erledigt, was sie zu erledigen hatten. Oder mit extrem zur Seite gekniffenen Knien, was auf die Tätigkeit, um die es geht, nicht gerade förderlich wirkt. Oder, wie mir eine Freundin, die dieses Klo noch im Urzustand benützte, später einmal gestand: Mit extrem gegrätschten Beinen ließ sich die Sache auch noch bei geschlossener Türe abwickeln.
Man konnte dieses fehlkonstruierte Klo nicht nach vorne erweitern, weil dort die Eingangstüre war. Sie hätte sich dann nicht mehr öffnen lassen.
Ich löste das Problem, indem ich die Gebetsnische durch Abschlagen einiger Ziegel erweiterte, die Klomuschel drehte und den Sarg in Richtung Küchenfenster verlängerte. (In Richtung Eingangstür gings ja nicht.) Für dieses ehrgeizige Projekt benötigte ich eineinhalb Jahre, weil der Hausverwalter es mit allen Mitteln hintertrieb. Der Umbau war nämlich für ihn mit Unkosten verbunden, und deswegen bediente er sich zu seiner Verhinderung aller ihm zur Verfügung stehender Möglichkeiten, des Hausinstallateurs und eines Baumeisters.
Unkosten hatte die Hausverwaltung nicht am Ende deswegen, weil die bequeme Gestaltung des Klos irgendwie in ihren Zuständigkeitsbereich gefallen wäre. Keineswegs. Was in der Wohnung ist, war zumindest nach den damaligen österreichischen Mietgesetzen das ausschließliche Problem des Mieters. Nur was sich den Zwischen- und Außenwänden und in Decke und Fußboden abspielt, fällt in die Zuständigkeit der Hausverwaltung. Aber hier lag der Hund begraben. Der Hauptabflußstrang war nämlich undicht, und wie sich bei seiner schließlich doch erfolgten Reparatur herausstellte, glich er einem Schweizer Käse. Wie sich ebenfalls im Laufe der Zeit herausstellte: Die Stützbalken der Decke waren schadhaft und deshalb reparaturbedürftig.
Vorher