»Was meinst du, Tom?«, fragte Martine neckisch und ließ ihre sanfte, warme Hand spielerisch über meinen Rücken gleiten. »Bist du nachher noch in Form, wenn du jetzt noch einen ,Ti-punch‘ trinkst?«
Bevor ich antworten konnte, hörte man von draußen Schüsse. Sie fielen etwa zwanzig Sekunden lang mit einer fast schon beängstigenden Regelmäßigkeit.
»Verdammt!«
Mit einem Satz war ich an der Tür und öffnete sie einen Spalt. Was ich sah, gefiel mir nicht. Überall huschten dunkle Gestalten in kleinen Gruppen durch die Nacht.
Kreolen! Das spärliche gelbe Licht der Straßenlaternen reichte aus, zu erkennen, dass sie Waffen trugen. Martine hatte es ebenfalls gesehen. Sie zog sich ein Baumwollhemd an und schlüpfte an mir vorbei, hinaus auf die Straße.
»Mir werden sie nichts tun. Geh auf keinen Fall raus, Tom. Ich werde herausfinden, was das alles bedeutet.« Bevor ich sie davon abhalten konnte, war sie auch schon in der Nacht verschwunden. Als sie wieder im Türrahmen erschien, war ihr braunes Gesicht blass. »Ich glaube, es ist besser, wenn du heute Abend hierbleibst.«
»Was hast du rausgefunden?«
Sie zuckte zusammen, denn wieder war ein Schuss gefallen!
»Die Legionäre«, hauchte sie. »Viele sind in die Stadt gekommen. Sie haben Waffen dabei, Knüppel, Baseballschläger und Messer. Sie haben alle Bars auseinandergenommen und die Windschutzscheiben sämtlicher Autos eingeschlagen. Und dann sind sie über die Leute hergefallen.«
Ich war perplex. »Das gibt Ärger. Ich muss zurück ins Camp.«
Mit einem Satz war sie bei mir und hielt mich am Ärmel fest. »Du kannst nicht da raus. Die Kreolen haben den Spieß umgedreht und machen jetzt Jagd auf alles, was ein weißes Képi trägt.«
Von draußen ertönte ein Trompetensignal. Ich packte Martine bei den Schultern und schüttelte sie sanft. »Es ist dunkel. Sie werden mich schon nicht erwischen. Ich muss jetzt los.«
»Warte …!«
Sie verschwand in der Küche und erschien einige Sekunden später mit einem schwarzen Stoffbeutel. »Steck dein Képi da rein, bitte.«
Widerwillig gehorchte ich ihr, doch das war nur zu meinem Glück. Als ich auf Schleichwegen zum Regiment unterwegs war, liefen mir immer wieder Gruppen von Einheimischen über den Weg. Sie waren mit Macheten bewaffnet. Einige hielten Schrotflinten in den Händen. Es war ein Spießrutenlauf! Jeder, der ein weißes Képi trug, musste in dieser Nacht um sein Leben rennen. Auf der Straße, die zum Camp führte, hatten Gendarmen Straßensperren und Kontrollpunkte errichtet, trotzdem war, zumindest kurzfristig, alles außer Kontrolle geraten. Im Camp herrschte eine düstere Stimmung. Ein Knistern lag in der Luft. Die Situation war brenzlig, denn, verstärkt durch den Alkohol, waren nicht wenige Legionäre immer noch aufgebracht. Der schwer bewaffnete Bereitschaftszug unter dem Befehl des Adjudant-chef Falco war fertig zum Ausrücken. Adjudant-chef Falco, imposant, von massiver Statur und mit einem narbendurchzogenen Gesicht, war ein alter Hase.
Adjudant-chef FALCO an der Spitze seiner Männer. Falco war ein „harter Hund“. Wer ihn jedoch genauer kannte, schätzte seine Besonnenheit, seine Freundlichkeit und seine Kompetenz. Major (e.r.) FALCO verstarb im Sommer 2016.
Jeder im Regiment fürchtete und respektierte ihn, selbst der Regimentskommandeur. Doch dieses Mal ging er zu weit. Der Chef de corps Oberst Piquemal, stellte sich persönlich dem Konvoi des alten Haudegens entgegen, hielt diesen auf, bevor er das Camp verlassen konnte, ehe ein Blutbad angerichtet wurde. Auch die Police militaire patrouillierte nonstop. Mein Zug stand zur Hälfte angetreten vor dem Hauptgebäude. Die Stärke wurde festgestellt und dann wurden wir auf unsere Zimmer geschickt: totale Ausgangssperre! Was an diesem Abend geschehen war, konnte mir niemand genau sagen. All diejenigen, die an dieser vermaledeiten Aktion teilgenommen hatten und geschnappt wurden, landeten sofort hinter schwedischen Gardinen. Intern zunächst. Die Bilanz war erschreckend. Okonkovski, ein ostdeutscher Legionär, war tot. Man hatte ihn aus kürzester Entfernung mit einer Schrotflinte in den Rücken geschossen und dann noch mit der Machete bearbeitet. Mehrere Legionäre waren aufgrund wüster Schlägereien verletzt, einige schwer. Aufseiten der Einheimischen sprach man ebenfalls von mindestens einem Toten und vielen Verletzten. Das Quartier wurde systematisch abgeriegelt. Anstelle des Zaunes, den man leicht überspringen konnte, wurde ein Gitter errichtet. Zwei Meter hoch mit Stacheldrahtkronen obendrauf. Die Ausgangssperre wurde erst Wochen später wieder aufgehoben. Das Quartier, in dem sich alles abgespielt hatte, die „Vieux bourg“, blieb für uns auf Jahre verboten. Es war feindliches Gebiet. Dem Leser mag nun das Ganze so vorkommen, als würden einige verrückte Fremdenlegionäre aus Launen heraus ausziehen und Strafexpeditionen durchführen. Die Tat als solche war schrecklich genug und man kann ihr natürlich beim ersten Hinsehen nichts Nobles abgewinnen. Deckel auf, folgende Zutaten in den Topf: Hitzkopf-Gemüt, etwas Hass, ein wenig Rassismus, eine Prise Alkohol, gähnende Langeweile und eine Portion Mitläufermentalität. Deckel zu. Was rauskommt, sieht man? Das ist unzutreffend. Wenn man alle Aspekte einzeln und nüchtern unter die Lupe nimmt, hält diese einseitige These nicht lange stand, denn die Zutaten stimmen nicht: Langeweile? Gab es kaum bei uns. Mitläufer? Dafür waren wir Legionäre zu stolz. Unser Charakter war gefestigt. Dafür hatte nicht zuletzt die Legion gesorgt. Hass? Ein Fremdwort! Und Rassismus, das hatte ich bereits erwähnt, gab es bei uns nicht. Wie in einer solch „kunterbunt“ zusammengewürfelten Einheit Rassismus entstehen soll, das muss mir auch mal einer vormachen. Eher das Gegenteil war der Fall. Rassismus ist nie ein Thema gewesen und wer Legionäre aus dieser besonderen Epoche kennt, kann das nur bestätigen. Ein Dummkopf und Idiot ist ein Dummkopf und ein Idiot. Ungeachtet seiner Hautfarbe und seiner Herkunft! Ich selbst war aber immer wieder Zeuge gewesen, wie Legionäre, die in die Stadt gingen, um einen schönen ruhigen Abend dort zu verbringen, von Kreolen grundlos angepöbelt wurden. Ich sah Kameraden zu Brei geschlagen ins Camp kommen. Sie hatten den Fehler gemacht, allein unterwegs gewesen zu sein. Oft wurden wir Legionäre frech diskriminiert. Da steckte Neid dahinter. Wir hatten eine relativ hohe Kaufkraft und gaben unser Geld auch aus. Geiz stand nicht in unsrem Lexikon und die Frauen mochten uns. Sei es wegen des Geldes oder weil wir selbstbewusst, durchtrainiert und sportlich waren. Da kommt eben mal Neid auf. Das kann schon Bosheit bei einigen hervorrufen. Wir Legionäre hatten Prinzipien, von denen wir selten abrückten, und unser einmal gegebenes Wort zählte auch dann, wenn es ungemütlich und gefährlich wurde. Ich glaube, man muss nicht unbedingt Legionär sein, um in gewissen Situationen zu entscheiden: Ein Limit ist erreicht! Dann kommt noch dazu, dass bei dieser Aktion eben nicht nur Hitzköpfe dabei waren, nicht nur solche, die zu tief ins Glas geschaut hatten. Es waren auch jene dabei, die sich ganz einfach sagten: Und nun ist Schluss! Sie beriefen sich auf unseren Ehrenkodex: „Tu lui manifestes toujours la solidarité étroite qui doit unir les membres d’une même famille!“
Das lässt sich kurz und bündig wie folgt übersetzen: sich uneigennützig gegenseitig Beistand leisten, weil wir wie eine Familie sind. Ja, und wie weiter oben im Text schon angesprochen, war einer von uns spurlos verschwunden. Das Schlimmste war zu befürchten gewesen. Im Nachhinein darf man die Sache nicht grundsätzlich verurteilen, aber sicher auch nicht gutheißen. Allerdings muss man sich Gedanken darüber machen, wie so etwas in Zukunft vermieden werden kann. Sinnlose Gewalt ist keine Lösung.
Ein Hauch von Papillon
Die nächsten Wochen waren eine rasante Abfolge von Pflichtübungen, die uns von den oben genannten Ereignissen ablenkten. Zunächst gab es ein Manöver auf Regimentsebene mit einem abschließenden Défilé, einer Parade in St.-Laurent. Saint-Laurent war eine Stadt am Maroni-Fluss. Dieser bildete die Grenze nach Surinam. Es folgte der Test Compagnie. Hierbei wurden die Einsatzbereitschaft, der Ausbildungsstand und die Effizienz der Einheit