Die Dorfbrunners. Helmut Lauschke. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Helmut Lauschke
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738049961
Скачать книгу
in einem großen Raum mit hoher Stuckdecke und drei hohen Flügelfenstern, über denen noch das Oberlicht mit dem runden Kopfbogen stand. Die Fenster erlaubten eine Weitsicht über das fruchtbare Land mit der frühherbstlichen Farbenvielfalt der Ährenfelder mit den seitlichen Mohnstreifen und den sattgrünen Wiesen mit den baumgesäumten Wegen dazwischen und den seitlich angrenzenden Wäldern vom dichten Mischbaumbestand. Die Weiten und Farben waren erstaunlich. In diesem Sinne drückte sich Herr Dorfbrunner aus, als er vom Wunder der Natur sprach, die ihm in diesem Augenblick unerschöpflich schien, weil er sie ja nur zum Teil durch das Fenster überblickte. Vor den Fenstern streckte sich der Seitenhof zu den Plantagen aus Kirsch- und Pflaumenbäumen aus, vor denen ein groß angelegtes eingezäuntes Hühnergehege und daneben ein noch größerer Gänseauslauf mit einem Teich waren, wo die fetten Gänse herumstolzierten, mit gestreckten Hälsen keiften und plötzlich kapitolinisch laut drauflos schnatterten, wovon sich die drei herumlaufenden Jagdhunde in keiner Weise stören ließen. Der Seitenhof war vom großzügig ausgelegten Vorplatz durch zwei Baumreihen getrennt, von denen die erste Reihe aus hohen, dickstämmigen Kastanienbäumen und die zweite Reihe aus nicht weniger hohen Nussbäumen bestanden. Alle Bäume hingen voll, so dass auch sie auf eine reiche Ernte schließen ließen, wobei Kastanien eine Delikatesse für die Pferde waren und zudem die Spielphantasie von Kindern beflügelte, von denen der Gutsherr einige hatte.

      „Nehmen sie doch Platz“, forderte Herr von Wittkopf den Oberlehrer Dorfbrunner und seinen Sohn August Emanuel zum Sitzen auf. Sie setzten sich auf massiv gebaute Stühle mit senkrecht hochstehender Rückenlehne an den großen rechteckigen Tisch mit den wuchtigen, vierkantigen Beinen und der dicken Platte aus Eichenholz, der Gutsherr ans Kopfende und von den Dorfbrunners der Vater rechts und der Sohn links von ihm. August Emanuel sah über die große, schwere, matt polierte Eichenplatte, um die neben den drei besetzten noch fünf unbesetzte Stühle standen, die bis zu den Rückenlehnen unter den Tisch geschoben waren. Vater Dorfbrunner sah auf die großen Ölgemälde an den leicht vergilbten Wänden, aus denen Männer und Frauen früherer Generationen herrschaftlich frisiert und gekleidet bedeutungsvoll über den Tisch schauten, ohne dass ihnen ein Lächeln abzugewinnen war. Die Gesichter der Männer waren von länglichem, die der Frauen mit den betonten Jochbögen von slawischem Format. Die Männer hatten kräftige Nasen mit breitem Steg, dagegen waren die Nasen der Frauen deutlich kürzer und schmal. Die Augenfarbe war bei zwei der Porträtierten blau, bei den andern drei war sie braun. Dagegen hatten die Frauen durchgehend die braune Farbe in der Regenbogenhaut. Die braunen Augen hatte sich auf den jungen Gutsherrn weiter vererbt. Alle Gesichter drückten eine fast preußische Herrschaftsstrenge aus, hinter der eine Disziplin zu vermuten war, die mit einer erheblichen Portion v erquerter Dickköpfigkeit einherging. Die Strenge der Blicke verriet, dass mit diesen Menschen nicht zu spaßen war, auf deren Lippen, weil sie schmal wie zusammengepresst übereinander lagen, etwas Verbissenes haftete.

      Herr von Wittkopf schaute dem Oberlehrer Dorfbrunner auf die Stirn mit der Schrägnarbe über dem linken Stirnbeinhöcker und fragte ihn, womit er ihm helfen könne. „Es geht um meinen Sohn August Emanuel“, begann er nach kurzem Räuspern, das einerseits dem Kloß im Halse galt, der von den Stimmbändern wegzuholen war, andererseits den Sohn zur gebotenen Aufmerksamkeit rufen sollte, dessen Blicke die Tischplatte nicht losließen, als rannte er mit seinen Gedanken davon, suchte, anstatt bei der Sache zu sein, das Weite, jene zu den weidenden Pferden mit den jungen Fohlen. Herr Dorfbrunner erzählte die Geschichte seines Sohnes, wobei er am Ende auf den Volksschulabschluss mit dem Durchschnittsniveau der Leistungen zu sprechen kam. Anhand der Zeugnisnoten sei in der Familie der weitere Weg in die Zukunft erörtert worden. Bei der sorgfältigen Abwägung seiner Begabungen und der wirtschaftlichen Verhältnisse, die er als Vater mit seinem bescheidenen Salär als Lehrer halten könne, war mit dem Besuch des Gymnasiums nicht zu rechnen. Eine humanistische Ausbildung wäre kräftemäßig und finanziell eine hochgesteckte Illusion, die die Gegebenheiten weit übersteigen würde. Das Ergebnis der Erörterung war, dass August Emanuel bei seinem besonderen Interesse für die Dinge der Natur sich in der Landwirtschaft ausbilden sollte, um gegebenenfalls später einen Hof zu führen, wenn ihn der Gutsherr dafür für fähig hält. Herr von Wittkopf hörte, ohne zu unterbrechen, zu und sah dabei einige Male dem Sohn Dorfbrunner ins Gesicht. Weil das Zuhören sich über epische Überlängen erstreckte, entging dem jungen Gutsherrn bei der zuhörenden Gesichtsbetrachtung der Schielfehler von August Emanuel nicht. Er betrachtete aufmerksam sein Gesicht, um das abnormale, weil stets unerwartete Kuriosum der gestörten Parallelbewegung der Augen zu verfolgen. „Ich wollte Sie daher aus den genannten Gründen bitten“, fuhr Herr Dorfbrunner fort, „meinem Sohn die Gelegenheit zu geben, auf ihrem Landgut die Bewirtschaftung der Felder und der Tiere zu erlernen. Selbstverständlich bin ich bereit, das Lehrgeld für ihn zu zahlen, bis er sich bei der Arbeit als nützlich erweist, um die Kosten selbst zu tragen und sie gegen den Lohn aufzurechnen.“ Bei diesem Satz winkte der Gutsherr mit einem Lächeln ab und meinte, dass er vom Sohn nicht den Eindruck der zwei linken Hände hätte, so dass er sich gleich nützlich betätigen könne, denn Arbeit gäbe es mehr als genug, deren Verrichtung ihm natürlich vergütet würde. „Da brauchen Sie sich keine Sorgen machen“, versicherte Herr von Wittkopf dem Oberlehrer Dorfbrunner. Beide schauten zu August Emanuel herüber, der wie geistesabwesend mit gesenktem Kopf dasaß, mit seinem Blick an der Tischplatte festhing, als kurvte er mit seinen träumerischen Gedanken darauf rum, dass er schwerlich zum Ausgang zurückfand. Er riss sich von der Platte los, als ihn der Gutsherr fragte, ob er etwas zum Gespräch sagen wolle. Darauf sah der Sohn den Vater an der anderen Tischseite an, der beim Blick in seine Augen das Ergebnis der Schieloperation an seinem Sohn bedauerte, weil doch noch eine erhebliche Schielkomponente zurückgeblieben war. „Du hast die Frage an dich gehört. So sprich, wenn du noch etwas sagen willst“, ermunterte ihn der Vater. August Emanuel sah den Gutherrn an und dann seinen Vater. Es fiel ihm kein Wort ein, das er, seine Zukunft betreffend, dem Gespräch hinzufügen konnte. Der Vater bemerkte die Unbeholfenheit, die ihm so krass in all den Jahren der Erziehung nicht aufgefallen war, weil sie nun irritierte, wenn der Sohn seine Meinung aussprechen sollte. Herr von Wittkopf fasste nach seinem Verständnis das Schweigen als eine positive Antwort auf. So fragte er den Sohn Dorfbrunner, um sich zu vergewissern, ob er mit dem Gespräch inverstanden war. Darauf antwortete August Emanuel mit dem kurzen Ja des Jugendlichen, der geistig noch ein Kind war, in dem sich die Welt mit den vielen offenen Fragen versteckt hielt, weil er zwar die vielen Erwartungen mit den noch mehr Fragen hatte, die er aber vor dem Erwachsenen nicht richtig, nicht präzise genug, auszudrücken in der Lage war.

      Damit war das Dreiergespräch, das ein Zweiergespräch zwischen Erwachsenen geblieben war, beendet. Es war in der Zeit, in der es Sitte war, dass der Jugendliche zuhörte, wenn Erwachsene miteinander sprachen und ein Gespräch führten, das von großer Bedeutung für den Jugendlichen war, weil da der Weg in seine Zukunft entschieden und festgelegt wurde. Der Gutsherr erhob sich mit der Feststellung, dass das Gespräch damit beendet sei, dem Oberlehrer Dorfbrunner nichts einzuwenden hatte und sich ebenfalls von seinem Stuhl erhob. So tat es der Sohn, der erleichtert war, dass diese Tischrunde zu Ende war und glimpflich an ihm vorübergegangen war. Herr Dorfbrunner bedankte sich für das Gespräch und das Angebot, den Sohn in die landwirtschaftliche Lehre zu nehmen. Beim Gang durch den Flur mit den vollgehängten Jagdtrophäen sagte der Gutsherr, dass der Sohn am Montag der ersten Septemberwoche mit der Arbeit beginnen könne. „Das ist sehr freundlich von Ihnen, vielen Dank“, merkte der Oberlehrer mit leicht unterwürfigem Ton an, während August Emanuel den Erwachsenen im Gehorsamsabstand von zwei Metern folgte. Herr von Wittkopf öffnete die breite Rotbuchentür zum Ausgang und rief von der erhöhten Plattform vor dem Eingang nach dem Kutscher Fritz, als die Dorfbrunners aus nächster Nähe am eingeschnitzten Familienwappen aus Widderkopf und Adler vor gekreuzten Schwertern vorbeigingen, sich neben den Gutsherrn stellten und auf den Einspänner warteten, um sie ins Dorf zurückzubringen. „Ich habe noch etwas für Sie, Herr Dorfbrunner“, sagte Herr von Wittkopf und verschwand durch eine Seitentür in die Küche, in der Frauen mit der Zubereitung des Mittagessens zugange waren. So schnell er in die Küche verschwunden war, kam er wieder heraus und überreichte dem Oberlehrer eine in Papier eingewickelte Gans. „Das ist für ihre Arbeit an meinem Sohn, die gefruchtet hat, denn seine Schulnoten haben sich deutlich gebessert. Nehmen Sie die Gans mit, sie ist bereits ausgenommen. Ich wünsche ihnen und ihrer Familie zum Verspeisen einen guten Appetit.“ Dann stieg er durch eine schmale Seitentür in den Keller, man hörte das