„Jo, du kümmerst dich um den Abgleich der Vermisstenanzeigen und bist mir persönlich dafür verantwortlich, dass die Leiche auch beim Doc unters Messer kommt. Keine Schlampereien. Ich erwarte einen Bericht bis morgen früh, klar?“
Jo stapft mit hängenden Schultern davon. Die anderen drei Kollegen sehen nicht wesentlich einsatzfreudiger aus.
„Hank und Tobi, ihr zwei kooperiert mit dem Erkennungsdienst und tretet den Jungs ein bisschen auf die Füße. Ich will Ergebnisse, und zwar schnell. Rudy, du durchleuchtest noch einmal die Aussagen der Wachmannschaft und versuchst ein wenig in ihren Lebensläufen zu graben. Vielleicht findet sich eine Verbindung zum kriminellen Milieu. Beeil dich.“
Als alle ihre Aufträge haben, tritt er an mich heran und raunt mir zu: „Diese verdammten Säcke. Für die ist das alles nur lästig. Arbeit, bei der es keine Aussicht auf einen schönen Nebenverdienst gibt. Die werden gar nichts finden. Bestenfalls kann ich mich auf den Pathologen verlassen. Deswegen brauche ich dich. Batman braucht seinen Robin.“
Ich weiß, dass er von seinen Kollegen keine hohe Meinung hat. Kein Wunder, denn er kennt ihre Tricks, sich ein leichtes Leben zu machen, dem Gesetz nur dann Geltung zu verschaffen, wenn die Kasse klingelt. Aufrichtige Polizeiarbeit ist längst ein Muster mit geringem Wert. Ehrliche Polizisten leben in ständiger Gefahr, denn sie sind eine Bedrohung für den korrupten Rest. Opfer und Täter verschwinden einfach in den Aktenbergen und Datensätzen des Archivs. Eine Statistik über ungelöste Fälle wird schon seit Jahren nicht mehr veröffentlicht. Für die vielen unangenehmen Jobs heuert man gerne private Dienstleister wie mich an. Wenig Geld, aber viel Ärger.
„Ich bin dabei.“ Ich sehe meinem Freund an, dass er diese Tat nicht in den Papierbergen verschwinden sehen möchte.
„Harry, versteh mich richtig. Die Tatsache, dass sie hier auf der Müllhalde entsorgt wurde, sagt mir mehr als ihr vermeintlicher Name: Sie war von keinem besonderen Wert mehr. Selbst als Tote nicht. Solange wir keine Papiere bei ihr finden können, keine Abdrücke von Zähnen oder Fingern als Vergleich haben oder Genmaterial als Referenz, stehen wir blank da. Ahnungslos. Aufgeschmissen. Der Mörder lacht sich ins Fäustchen, er weiß, dass wir nur begrenzte Ressourcen an solche Fälle verschwenden. Das kotzt mich an. Das macht mich rasend.“
Georges nimmt die Mütze ab und fährt sich durchs Haar. Ich nicke ihm zu.
„Wahrscheinlich hast du recht. Wenn in euren Archiven nichts zu finden ist, schaue ich mal bei Cassandra Lenglen vorbei. Sie betreut häufig Fälle von Entführungen und verschwundenen Kindern und Jugendlichen, die nicht unbedingt bei der Polizei gemeldet werden.“
Ich bin fertig mit den Bildern, habe genug gesehen und reiche ihm die Hand. Zum ersten Mal heute Morgen sehe ich Georges breit grinsen.
„Ruf mich morgen an, dann habe ich die Ergebnisse der Ermittlungen unsererseits. Cas ist eine gute Idee. Du stehst doch auf gutem Fuß mit ihr.“
Ein Leichenwagen kämpft sich durch die Halde auf uns zu. Zwei Gehilfen steigen aus und nachdem ihnen der Kommissar mit einer Handbewegung die Erlaubnis erteilt hat, stopfen sie die Tote in einen grauen Plastiksack und laden ihn in den Kofferraum. Ich stapfe davon und Georges brüllt mir noch hinterher:
„Danke, dass du einem alten Spinner hilfst.“
3 Straßengören
In einer Stadt voller Teufel brauchen die Geschundenen einen Engel an ihrer Seite. Einen schwarzen Engel. Die kurvige, sportliche Figur wird gekrönt durch einen tiefschwarzen Lockenkopf und dunkelbraune Augen, die immer ein wenig listig hinter den Rundbrillengläsern hervorschauen. Cassandra Lenglen ist Professorin für angewandte Soziologie und Streetworkerin, sie stammt aus einer angesehenen Anwaltsdynastie und gilt in der ganzen Stadt als fleischgewordene Insubordination. Die bürokratische Lähmung und organisierte Teilnahmslosigkeit des Systems sind ihr ein Dorn im Auge. In so mancher Amtsstube zittern die Sachbearbeiter, wenn der Empfang sie ankündigt.
Eines Tages erschien sie in meinem Büro und wollte, dass ich Ehemann Nummer zwei beschatte. Sie hatte den nicht unbegründeten Verdacht, dass er sie um Geld betrog. Wie sich herausstellte, zweigte er nicht gerade kleine Summen vom gemeinsamen Konto ab und beteiligte sich damit an einem Bordell in der Südstadt. Daraufhin durfte ich ihm die Finger brechen, damit er ihr das Geld bis auf den letzten Cent zurückzahlt. War mir ein Vergnügen. Zum Dank lud sie mich zum Essen ein.
Seitdem sind wir Freunde, gehen gelegentlich zusammen aus und weiden uns an den liebenswerten Marotten des anderen.
Wenn ich sie treffen will, muss ich nur ins Stadtzentrum, Ecke Golden Hint Street/Blackmails Corner. Hier schmiegen sich die altertümlichen, teils verfallenen Häuser eng aneinander, als müssten sie sich gegenseitig vor den Glaspalästen der Immobilienpäpste schützen. Hier sind die Mieten noch billig. Zwischen einem kleinen Tattoo-Shop und einem chaotischen Trödelladen steht der verfallene vierstöckige Backsteinbau, den ich suche: Der Treffpunkt der Straßenkinder. Anlaufstelle, notfalls Zuhause und Zentrum für viele kleinere und größere Aktionen, die Polizei und Stadtverwaltung mächtig auf die Nerven gehen. Ganz oben unterm Dach sitzt Professor Doktor Cassandra Lenglen, wenn sie nicht gerade Studenten an der Uni grillt, trinkt in kleinen Schlucken literweise Kaffee und verbessert die Welt.
Als ich eintrete, schenkt sie mir ihr breitestes Grinsen:
„Harry, was machst du hier? Suchst du jetzt bei mir nach neuen Jobs, um deine Steuerschulden zu bezahlen?“
„Hey, ich bin seit einem halben Jahr schuldenfrei. Seit ich einem Finanzamtsknilch bei einer Scheidungssache Geld gespart habe, bin ich gewissermaßen amnestiert. Ich wollte dich nur mal wieder besuchen. Du hast ein so schönes Büro mitten im Stadtzentrum. Wenn ich da an meine Bruchbude denke.“
Das Grinsen weicht einer schmallippigen Bitterkeit:
„Sieh dich um, mein Freund. Hier gibt es nichts zu beschönigen. Abgewetzte Möbel, verstaubte Computer, ein paar Enthusiasten, die ohne Gage ihren Einsatz bringen. Demgegenüber jeden Tag ein neues Dutzend verwahrloster, zerzauster, missbrauchter, kranker und hungriger Minderjähriger, die sich zwischen Abflussrohren und Abfallhaufen einen Platz zum Leben erkämpft haben. Ihre Hoffnung: ein bisschen Essen und guter Klebstoff zum Schnüffeln. Ihre Zukunft: ausgefallen. Mir ist gerade nicht nach Scherzen zumute. Spar dir also deinen Zynismus und komm zur Sache.“
Ich kann ihre Ex-Ehemänner verstehen: Wenn diese Frau ungehalten ist, wird es verdammt ungemütlich.
„Ich will dir auf keinen Fall deine wertvolle Zeit stehlen. Ich bin hier, weil ich dein Wissen und deinen Rat in einer wichtigen Sache benötige. Es geht um ein vermisstes Mädchen.“
Prustend lehnt sie sich in ihrem abgenutzten Chefsessel zurück. Sie deutet auf einen Berg Akten:
„Ein vermisstes Mädchen ... Harry, ich habe hier pro Monat mindestens ein Dutzend vermisste Mädchen. Wenn ich ehrlich bin, kann ich die Geschichten und Gesichter nicht mehr sehen und hören. Den weinerlichen Ton in der Stimme der Eltern, die Verzweiflung in ihren Blicken. Die Wut über die Behörden. Es ist ein Teufelskreis. Sie werden als Frischfleisch angeboten oder sie sind einfach durchgebrannt, weil zu Hause nichts mehr geht. Ihre Gesichter kleben manchmal auf Milchpackungen oder Laternenpfählen und mir kleben sie im Gehirn. Ich schlafe nicht selten nur noch mit Pharmakrücken und dann esse ich morgens mein biologisch-dynamisches Frühstück mit Milch und schon sehe ich das Gesicht wieder. Ich brauch nicht noch eins.“
Erst jetzt fallen mir die Augenringe auf, die Sorgenfalten