Eine paar Tage später sitze ich morgens in meinem Büro, eine Postkarte in der Hand. Sie zeigt einen endlosen Strand, Palmen, dahinter ein Bergmassiv mit Dschungel und jede Menge Meer. Adressiert an „Mr. Harry Hell, Privatdetektiv, Future Drive 23“, also an mich. Trudy hatte mir tatsächlich eine Karte aus der Karibik geschickt. Es stehen drei Wörter darauf: „Danke, Ihre Trudy.“
Ich hänge ihr Dankschreiben an meine Wand für Kundenkorrespondenz. Es dauert ein wenig, bis ich den richtigen Platz finde. Trudy passt gut neben den mittelalten Steuerberater, der mit seinem Masseur durchgebrannt ist, nachdem ich für ihn rausgefunden hatte, dass sein Eheweib ihn ausplündert und mit dem Schwimmbadreiniger hintergeht. Dafür zeigte er sie bei der Steuer an. Ich mixe mir ein wenig Gin mit abgestandener Limo und genieße das bittere Wirken des Wacholders auf der Zunge. Ein Toast auf den armen Herb. Vor ein paar Minuten hatte mich ein Bekannter bei der Polizei darüber informiert, dass seine sterblichen Überreste schon fest mit dem Küchenboden verwachsen waren, bevor ihn endlich ein Nachbar fand, der den Gestank nicht mehr ertragen konnte.
Das Zucken meines Mobiltelefons holt mich wieder in die Gegenwart zurück.
„Harry Hell am Apparat. Wie kann ich Ihnen helfen?“
„Harold Luther Hellinghurst, du sollst nicht schon morgens trinken. Ich bin es: Kommissar Georges Thibault.“ Georges ist einer der seltenen, vom Aussterben bedrohten, unbestechlichen Polizisten dieser Stadt. Ein feiner Kerl, hart in der Sache und immer am Ball. Also mein Mann. Er ist einer der wenigen, der meinen Geburtsnamen kennt.
„Georges, du penetranter Bulle. Was gibts? Du störst mich doch hoffentlich nicht umsonst beim Frühstücksgin.“
Das grollende Lachen am anderen Ende verheißt nichts Gutes.
„Umsonst natürlich nicht, allerdings wirklich viel zu verdienen gibt es auch nicht, außer jeder Menge Ruhm und Ehre, versteht sich.“
Meine Nase beginnt zu jucken.
„Ruhm und Ehre? Ich verstehe. Du traust deinen Kollegen mal wieder nicht zu, sich richtig um die Sache zu kümmern und setzt darauf, dass ich nichts Besseres zu tun habe, korrekt? In Wirklichkeit erwarten mich Kübel mit Exkrementen und faulem Gemüse. Was ist los, ist die städtische Wachmannschaft mal wieder in Bummelstreik getreten?“
Georges und ich leiden beide unter dem „Superheldenkomplex“: Wir sind die wahren Rächer der Entrechteten, die Robin Hoods, mitten in dieser millionenfachen Anhäufung von genetischer Degeneration und moralischer Blindheit. Die Zwei. Das Superduo. Ohne uns würde alles komplett im Chaos versinken. Das macht einsam. Also halten wir zusammen.
Seufzend raune ich in den Hörer: „Wofür brauchst du diesmal meine Superkräfte, Herr Kommissar?“
„Sie ist sehr jung, nackt und tot. Man hat ihre sterblichen Überreste auf einem der Abfallberge der städtischen Müllabfuhr abgelegt. Keine Identität. Wahrscheinlich Mord. Ist noch nicht raus, ob sie vergewaltigt wurde oder woran sie starb. Werde mir selbst ein Bild machen und wollte dich bitten mir zu helfen. Am besten in einer Dreiviertelstunde mit allem Tamtam.“
Aufgelegt. Das Tamtam steht für meine eigene Ausrüstung. Kamera, Knarre, Ausweis, Mobiltelefon und Notizblock gehören zum Basisequipment. Kein Fall für die Kasse, doch kann ich Georges nur selten etwas abschlagen. Auf jeder Seite des Gesetzes gilt die alte Regel: „Eine Hand wäscht die andere.“
2 Die Tote auf dem Müll
Ihre Haut schimmert seltsam grauweiß und bildet einen deutlichen Kontrast zu den stinkenden Überresten des Zivilisationsmülls, der eine unüberschaubare Hügellandschaft auf dieser städtischen Deponie bildet. Scharen von hungrigen Möwen kreisen über dem Leichenfundort und warten auf eine Gelegenheit sich ihren Anteil zu sichern.
Mit einem wütenden Fußtritt beseitigt Georges gerade eine der fliegenden Aasjägerinnen. Um die Leiche herum stehen sich eine Handvoll Polizeibeamter die Beine in den Bauch.
Georges wartet ein wenig abseits und kaut auf einer Frühstücksstulle. Er ist nicht größer als ein gedrungener Bullterrier mit Doppelkinn und ausufernder Hüfte. Seine Gegner unterschätzen ihn gerne als „gemütlichen Zwerg ohne Hals“.
„Wir können nicht mit Sicherheit sagen, wie lange sie hier schon liegt. Der Mann für die Frühschicht hat sie gefunden, als er gerade seine erste Ladung abkippen wollte. Der Wachdienst meldet keine besonderen Vorkommnisse. Hätte der Mitarbeiter heute früh keine Meldung gemacht, wäre sie wohl, wie viele andere vor ihr, einfach unter einem Haufen stinkenden Abfall verschwunden. Ich schätze so war der Plan.“
Der Gestank treibt mir die Tränen in die Augen:
„Da ist bestimmt was schiefgelaufen. Deine Kollegen sollten sich mal die Wachmannschaft und die Müllwerker vornehmen. Könnte sein, dass die auf der Gehaltsliste einer Opferentsorgungsfirma stehen.“
Das organisierte Verbrechen hat seine eigenen Methoden der Verschleierung. Eine davon ist die Versenkung einer Leiche in diesem Meer aus Müll. Georges deutet auf die Körpermitte der Toten.
„Sie haben ihr alle Sachen ausgezogen. Die blauen Flecken im Bauch- und Brustbereich lassen vermuten, dass man sie zusammengeschlagen hat. Todesursache: Vermutlich innere Blutungen aufgrund eines Milzrisses oder Ähnlichem.“
Sie ist nicht voll ausgewachsen, zarter Körperbau, Babyspeck und schmale Augen, die jetzt gebrochen in den Himmel starren. An einigen Stellen haben die Vögel sich schon bedient. Ich zücke ein Paar Einweghandschuhe aus der Tasche und mache einige Fotos von Gesicht, Lage, körperlichen Merkmalen.
„Ich schätze, sie ist nicht älter als sechzehn. Nur wenig Schamhaare, kein Piercing auf dieser Seite, keine Einstiche, insgesamt ein eher gesundes Äußeres. Wenn, dann ging sie noch nicht lange auf den Strich.“
Georges kniet neben ihr mit viel zu großen Latexhandschuhen an den fleischigen Fingern.
„Ich denke, du liegst richtig. Mal sehen, was wir auf der anderen Seite finden.“
Er wartet noch, bis der Polizeifotograf seine Bilder gemacht hat und dreht den Korpus auf den Bauch. Auch am Rücken sind jede Menge schwere Hämatome zu erkennen.
„Die Flecken können auch vom Transport der Leiche verursacht worden sein. Ich glaube nicht, dass sie hier erledigt wurde.“ Vielsagend zeigt er auf ein mittelgroßes Tattoo am rechten Schulterblatt: Eine Rosenblüte. Ich schüttele den Kopf.
„Allerweltsmotiv. Trägt selbst die keusche Betschwester aus dem Stadtteilladen.“
Georges sucht gründlich die Umgebung des Fundortes ab. Während er in der chaotischen, stinkenden Masse angestrengt nach Spuren sucht, stellt er seine Überlegungen an.
„Profis oder Laien?“
Die Frage gilt mir.
„Profis. Sie ist zu Hause abgehauen, brauchte dringend Geld und ist in die Fänge eines Gigolos geraten. Der hat sie auf den Truckerstrich geschickt, obwohl sie dafür eigentlich zu gut aussieht. Sie hat in ihrem Elternhaus einen Rest Anstand bewahrt und sich geweigert mitzumachen, vielleicht mit dem Gang zur Polizei gedroht. Der Gigolo hat seine Vorgesetzten informiert und sie wurde werbewirksam vor den anderen zu Brei geschlagen und dann auf den Müll geworfen. In diesem Moloch wird nicht lange gefackelt, wenn man nicht mitspielt.“
Georges rechte Augenbraue zuckt nach oben. Meine These hat ihn nicht beeindruckt.
„Netter Vortrag. Du bist immer schnell bei der Hand mit deinen Geschichten. Hättest auch Schreiberling werden können, wie diese Aasgeier von der Presse.“
Georges ist kein großer Freund der Spekulation. Er ist einer der wenigen in seiner Branche, die den Dienst am Bürger noch ernst nehmen, der nicht käuflich ist und jeden Fall klären will, koste es, was es wolle.