Die Bibel als Quelle. – Christliche Liebe im Dienst an der Welt.
Wichern schreibt: Aber gerade dieses Bewusstsein, dass es Aufgabe des Lebens ist, die Gebote der Schrift mit dem ganzen inneren Leben vermittels aller sich darbietenden Hilfe in Einklang zu bringen, tritt mir auf diesem neuen Lebensabschnitt in Hinsicht der Art, wie die Aufgabe zu lösen, mit neuer Kraft vor die Seele. Das wissenschaftliche Leben soll in steter Wechselwirkung mit dem sittlichen stehen, und für den Suchenden erweitern sich die Anforderungen beider täglich.
Auch hier habe ich schon oft den Widerspruch gegen den Satz, dass das Leben in einer höheren Ordnung der Dinge nicht durch Berechnung des Verstandes als vielmehr durch inneres Erfahren und Wahrnehmen des gläubigen Herzens erkannt werde, erfahren. Dergleichen. kann aber den inneren Gehalt des Glaubens nur immer noch mehr bewähren und führt nur noch tiefer in die Seele die Überzeugung hinein, dass ein Verstehen des Christentums nicht möglich ist, ohne das Leben in demselben, und dass dieses jenem vorangeht, so dass beide, Leben und Erkennen, in Wechselwirkung treten, sich gegenseitig bedingen und begründen und immer tiefer die Wurzel des neuen Lebens schlagen, welches geheim und verborgen im Ursprung zu einem schattigen Baum wird, unter dem der Christ willig alles zum Opfer bringt, was dem Heiligen widerstrebt.'
Aus einem Brief an die Mutter: Denn wer auf Erden Gott vertraut, der ist so weit nicht vom Himmel, als manche wohl denken; dann ist die Erde kein Jammertal, „das Reich Gottes ist mitten in Euch“ spricht der Herr der Geister und das Irdische ist himmlisch geworden, wenn unser Wandel schon hier ein Wandel im Himmel ist. Freude, Freude und immer wieder Freude ist für den in dieser Welt, der die Freude annimmt mit Glauben, die die Liebeshand des Vaters uns darbietet, und wo Freude ist, da ist auch Friede, und dieser Friede ist aus Gott, und wer von Gott geboren ist, hat alle diese himmlischen Güter in der Liebe. Denn die Liebe ist das Band, das alle umfasst und inwendig im Gemüte an Gott bindet und an die Brüder.
Denn wo der Glaube ist, da wird aus ihm die Liebe geboren, wie der Strahl aus der Sonne, wie die Wärme aus dem Feuer.
Denn Wer in der Tat sich anderen entzieht, hat noch immer nicht erkannt, was die große, heilige Bedeutung des. Christenglaubens sei.
Gegen die damalige idealistische Ethik: Andererseits sucht man das Wesen der Religion in dem, was durch sie erst geheiligt werden soll, der Sittlichkeit, verkennend, dass die Tat doch ein zur Tat Treibendes erfordert. Hier fehlt das Element der Religion, ohne welches schöne und beglückende Taten nicht geübt werden können.
Leben ist diese stille, heimliche Liebe zu Gott, Gott sieht sie, wie sie Gott sieht, Er gibt sie, wie wir sie erbitten, erflehen. Er treibt uns, dass wir um sie bitten, um ihretwillen uns zu Ihm wenden, wo kein Endlicher. es sieht. Liebe ist ein verborgenes Gebet und durch Gebet empfangenes, inwendiges Gut.
Wir sind zu Herren der Natur und aller Geschöpfe verordnet, darum ist es Aufgabe und Pflicht, sich dienstbar zu machen alles, was zu unserem Dienst verordnet ist; nur dass wir uns nicht dienen lassen, ohne selber Diener zu sein, nicht Gehorsam fordern ohne selbst Gehorsam zu leisten; denn wer nicht Diener Gottes ist und Sein Schüler sein Leben lang, wird nicht leben im Leben, sondern sterben, da er lebt.
In einem Brief aus Göttingen berichtet der Student, wie ihn der Anblick der in Ketten arbeitenden Gefangenen erschüttert habe. Kaum ist er in Berlin, da meldet er sich zur Mitarbeit bei dem menschenfreundlichen Arzt Dr. Julius, der für christliche Gefängnisreform eintritt. Der junge Studiosus spricht schon in dieser Zeit von dem Ziel, „den Gefangenen hinter Kerkermauern das rettende und tröstende Evangelium zu bringen“.
Auf dem Weg von Göttingen nach Berlin besucht er in den letzten Märztagen des Jahres 1830 das Hallesche Waisenhaus.
Dieser Besuch beeindruckt ihn ungemein. „Ihr wisst“, schreibt er an Mutter und Geschwister, „August Hermann Francke begann dies Werk mit wenigen Guldenstücken; der Lohn und Segen aber seines Glaubens ruht in jenen 500 Kindern, die daselbst jahrein, jahraus durch Unterricht, Kleider, Speise und Wohnung noch immer der Liebe des Vaters Francke inne werden.“
Und dann kommt der ersehnte Augenblick, da er Berlin, die Hauptstadt Preußens kennenlernt. Das Erlebnis dieser Stadt will ihn zunächst überwältigen. „Die Größe und Pracht Berlins macht einen fast stutzig; Palast und Palast, lange breite Straßen, glänzendes Militär, die prachtvollsten Equipagen, große Gebäude, in denen Kunst und Wissenschaft gepflegt und gefördert werden; zu alledem das Bewusstsein, an einem Orte zu wohnen, an welchem die größten Männer unserer Zeit leben und wirken.“ Aber es vergeht keine Woche, da gesteht er, dass er sich von der Größe und Pracht der königlichen Hauptstadt habe überraschen und überrumpeln lassen. „Der Bewunderungstaumel hat schon aufgehört… hinter glänzendem Schein versteckt sich hier bittere Armut und tiefe Sittenverderbnis…“ Das hindert ihn nicht, im Laufe der drei Semester, die er in Berlin studiert, diese Stadt lieb zu gewinnen. Aber das weniger um ihrer architektonischen Schönheit willen, die er kennen und verehren lernt. Wenn er im Spätsommer 1831 nach Hamburg zurückkehrt, wird er über dieselbe Stadt schreiben: „Berlin ist mir durch ihre Freundschaft und große Liebe solcher Männer unauslöschlich in die Seele gezeichnet, und Ihr werdet noch oft genug hören, dass ich es rühme und preise als die beste Stadt – nach unserm Hamburg.
Den berühmten Johann August Wilhelm Neander, einen getauften Juden, den bedeutendsten Kirchenhistoriker seiner Zeit, hatte er schon in Hamburg im Hause des Senators und Großkaufmanns Hudtwalcker kennengelernt. Neander hatte wie Wichern das Johanneum in Hamburg besucht. Neander empfing ihn nun hier in Berlin mit offenen Armen. Zwischen dem berühmten Professor und dem unbekannten jungen Studenten bahnt sich bald eine herzliche Freundschaft an. Wichern schreibt an seine Mutter: „So gewaltig und groß Neander sonst dasteht, so kindlich milde und voll herzlicher Liebe ist er im vertrauten Gespräch; es ist, wie wenn man mit der Mutter oder einem lieben leiblichen Bruder spräche.“ In den kirchengeschichtlichen Vorlesungen Neanders wird das große Bilderbuch der Christenheit vor ihm aufgeschlagen als eine Beispielsammlung christlichen Lebens. Neander sucht in der Geschichte des Christentums die Äußerungen und Ausdrucksformen des gläubigen Lebens auf, die Praktizierung des allgemeinen Priestertums aller Gläubigen.
Wichern erfährt die Spannung zwischen der historisch-kritischen Arbeit an der Bibel, die mit der Aufklärung ihren Siegeszug durch das Abendland angetreten hatte, und der pietistischen Erweckungsfrömmigkeit, in der er aufgewachsen war, ohne in seinem Glaubens- und Gebetsleben dadurch angefochten zu werden. Neben Neander wirkt in Berlin Friedrich Schleiermacher, der große Theologe, dessen ‚Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern’ ein erster tief gegründeter Versuch waren, den draußen Stehenden die christliche Wahrheit überzeugend nahezubringen.
Diese Lehrer weiten Wicherns Blick zu einer Gesamtschau des Christentums. Sie lehren ihn die „Theologie der Romantik“, die den einzelnen mit seiner individuellen Veranlagung lebendig einfügt in die tragenden Gemeinschaften von Familie, Volk und Kirche. Doch nicht minder berühmt war Schleiermacher um seiner großen und edlen Predigtkunst willen. Zur Zeit der französischen Fremdherrschaft war er, der Schwager Ernst Moritz Arndts, von der Kanzel der Dreifaltigkeitskirche herab ein treuer und unerschrockener Mahner und Tröster seines Volkes gewesen. Es entspricht dem Ruf und der Bedeutung dieses Mannes, wenn Wichern am zweiten Sonntag seines Berliner Aufenthaltes den Gottesdienst in der Dreifaltigkeitskirche besucht, in der Schleiermacher predigt.
An dem unmittelbaren Eindruck dieses Erlebnisses lässt er seine Mutter teilnehmen, indem er ihr sehr ausführlich schreibt: „Doch Ihr müsstet