So war die Einrichtung der Sonntagsschule – das erkannte Wichern sehr klar – für die gefährdete Jugend zunächst nur eine halbe Hilfe. Was war damit schon viel getan, wenn man die Kinder nur am Sonntag für kurze Stunden aus den Gassen und Gossen herausholte, und wenn man sie dann die ganze Woche über wieder in den Schmutz und das Laster ihrer Umwelt zurückschickte.
Wenn man diesen jungen Menschenkindern wirklich helfen wollte, war ein dauerndes Herauslösen aus dem verderblichen Einfluss und ein Verpflanzen in einen neuen Mutterboden dringend von Nöten. So reifte denn bei Wichern und bei seinen Freunden und Mitarbeitern der Plan, nach dem Beispiel des Grafen von der Recke in Düsseltal, und eines Johannes Falk in Weimar, und nach dem Vorbild des Halle’schen Waisenhauses, zur Gründung eines Rettungshauses aufzurufen. Ihm schwebte eine freundliche Heimstatt vor, in der die verlorenen und verirrten Kinder zu kleinen Familiengruppen zusammengefasst, wieder Elternliebe und Heimatgefühl erfahren dürfen, und in Geborgenheit und Nestwärme, aber auch in Ordnung und Pflichterfüllung Vertrauen zu sich selbst und zu den andern finden, und wie Kinder fromm und fröhlich sein können.
In einem Brief schildert Wichern seine Hoffnungen und Pläne: „Ich denke an eine kleine christliche Kolonie, wo Haus an Haus steht, und die Häuser unter Hilfe von Knaben aufgebaut werden; und soll sich die Anstalt zu einem Mittelpunkt eines christlichen Lebens bilden, von welchem aus unser Volk im tiefsten Grunde erfasst und aus seinem Sumpf heraus in die neue Welt Gottes hineingestellt wird. Wer ein solches Kind jemals gesehen, der würde die Angst und Tiefe des Bedürfnisses in den Seelen dieser Kinder begreifen, und könnte dem heiligen Triebe, zu retten nicht widerstehen. Wer wollte nicht teilhaben am Werk der Rettung, wer nicht helfen, Hütten der schützenden, bessernden, der Leben bringenden Liebe zu bauen.“ Wichern wirbt und wartet und bittet.
Wichern erkennt die Aussichtslosigkeit, sittlich bedrohten Kindern in der Sonntagsschule durchgreifend zu helfen, wenn sie im Bannkreis ihrer zerrütteten Familie bleiben. Was hatte er denn gesehen? In einer Lumpensammlerfamilie schliefen vier Personen auf einem Strohsack unter einer Decke. Viele Kinder liefen fast nackt herum. Knaben banden ihre zerlumpten Sachen mit Bindfäden zusammen. Ein sechzehnjähriges Mädchen hatte sich seit seinem fünften Lebensjahr ohne jede Aufsicht herumgetrieben. Kinder wuchsen ungetauft, unkonfirmiert und ohne Schulunterricht auf. Wenn junge Burschen mit jungen Mädchen zusammenliefen, dann unterblieb fast selbstverständlich die Trauung. Einen zwanzigjährigen jungen Mann fand Wichern mit einem sechzehnjährigen Mädchen und mit einer öffentlichen Dirne zusammen hausen. Kindesmisshandlungen fielen nicht auf. Einmal traf Wichern selbst die Kinder eines Trunkenboldes betrunken an. Furchtbare Frauenschicksale entrollten sich vor seinen Augen.
Durch diese Arbeit lernt Wichern die schreiende Armut, die Wohnungsnot, die geistige und sittliche Verwahrlosung in Hamburg kennen. Hier tut sich für Wichern eine entsetzliche, kaum beschreibbare und ihm bis dahin völlig unbekannte Elendswelt auf, und er gewinnt Einblick in sie auf seinen Wegen in die Hütten der Armut, in die Kellerwohnungen und die Hinterhäuser, wie sie außer in Hamburg wohl damals kaum zu gewinnen war. Er sieht das Kinderelend jener Zeit, da die Kinder von früh auf zum Broterwerb der Eltern beitragen mussten. Sie gingen in Fabriken, boten Grünwaren und Früchte an, Schwefelhölzer und Zigarren, Kalender und viele andere Dinge. Die Schule konnten sie nicht besuchen, weil sie keine Zeit dazu hatten, keine Schuhe an den Füßen und nur notdürftige Kleidung auf dem Leib. Einen dieser Jungen, den Wichern als „Findling“ irgendwo aufgelesen hatte, wird er ein Jahr darauf als ersten Zögling mitnehmen in das neu zu gründende Rettungsdorf in Horn. Wichern fand diesen Jungen in der Wohnung und in den Händen eines ‚Trunkenboldes’. „Der 16jährige Knabe war fast so tierisch roh, wie man uns die in den Wäldern der Ardennen früher eingefangenen Kinder geschildert hat. In dem armen Jungen hatte sich kaum die erste Regung des Schamgefühls entwickelt, und sein Sprachschatz bestand aus sehr wenigen, seltsam gestalteten Wörtern. Über seine uns lange dunkel gebliebene Abkunft hat uns erst ein schmutziges Papier belehrt, welches sich in der Rocktasche des bald danach verstorbenen sauberen Pflegevaters vorfand. Er gehört zu den unglücklichen Kindern sträflicher Verbindung, welche von ihren verbrecherischen Eltern schon gleich nach der Geburt, mit einem dürftigen Reisepfennige versehen, auf die Wanderschaft geschickt, das heißt samt einer geringen Mitgift für immer armen Leuten übergeben werden, welche des blanken Sümmchens froh, ohne Zaudern allerlei Verpflichtungen unterschreiben, die sie so wenig kennen als zu halten imstande sind. Die Eltern hatten sich von ihren Pflichten auf rechtliche Weise losgekauft und bekümmern sich um ihr Fleisch und Blut nicht mehr!“ Auch der trunkene Pflegevater hatte sich um ihn nicht weiter gekümmert – nun ist er einer der Schutzbefohlenen des Besuchsvereins, eines der vielen Kinder, die den Männern und Frauen, die dies Elend erlebten, den Gedanken nahelegt, solch gefährdeten Kinder aus einer verwahrlosten Umgebung heraus zu hohlen, um ihnen eine liebeerfüllte und sie behütende Heimat zu geben.
Mit den Mentoren seiner Studienzeit wird so der Gedanke einer Rettungsanstalt für verwahrloste Kinder entwickelt. So fügt sich ein Glied zum anderen, und am Ende bietet sich der Plan zur Gründung eines Kinderrettungsdorfes ganz von selbst.
Im Kreise dieses Männlichen Besuchsvereins sitzen die jungen Leute an einem Oktoberabend 1832 wieder beisammen. Es ist im Haus des Schullehrers Hoffmann, und es sind dabei einige schlichte Handwerker, einige junge Theologen, ein Oberpostsekretär und ein Kondukteur, junge Männer aus verschiedenen Volks- und Bildungsschichten, aber eins in der Liebe zu ihrem Herrn und eins unter seinem Gebot: „Lasset die Kindlein zu mir kommen!“ Auf der Suche nach einem helfenden Ausweg aus dem bedrückenden Kinderelend wird in dieser Stunde zum ersten Mal der Gedanke laut, es müsse auch in Hamburg eine Anstalt geben, in der Eltern, die es nicht selbst vermöchten, ihren Kindern eine christliche Erziehung zuteil werden zu lassen, geholfen werden könne. Was es im Württembergischen Korntal gäbe, im Schloss Beuggen in Baden, in Düsselthal am Rhein, das müsse auch in Hamburg gegründet werden. Da hat wohl der Graf Adelbert v. der Recke Pate gestanden, der schon 1826 mit dem Lehrer Pluns in brieflicher Verbindungstand. Schon Martin Luther hatte seinem Vater in einem Brief darüber geklagt, dass man keine Stiftung habe, „worin man die jungen Knaben in guten Ordnung hielte, dass sie nicht irre liefen, damit ihre Jugend im Zaum gehalten würde“. Und während sie so sitzen und sprechen, wächst aus dem Fragen und Suchen ein Plan und ein Ziel: Wir gründen auch in Hamburg ein Rettungshaus. Aber Wichern fährt dann in seiner Erzählung fort: „Hätten wir unsere Unwürdigkeit und unser Unvermögen angesehen, so hätten wir das Vorhaben weit hinter uns werfen müssen; denn wie wir vor Gott keines Dinges rühmen konnten, so waren wir auch vor Menschen nichts. Wir alle waren nicht bloß Männer, die selber nicht mehr hatten, als was sie für sich und ihre eigenen Familien bedurften, also für fremde Kinder keine Häuser bauen konnten, sondern waren auch der großen Menge unbekannt und überdies Neulinge, ein öffentliches Werk zu übernehmen. Aber je mehr wir solches Unvermögen aller Art an uns selber kannten, desto lebendiger und getroster mussten wir auf Den bauen, dem alles Vermögen innewohnt und der Sein Wort und Seine Verheißungen uns nicht vergebens gegeben haben will. In diesem Geiste schieden wir an jenem 8, Oktober voneinander, jeder mit dem Versprechen gegen den andern, die hochwichtige Sache vor dem Herrn zu erwägen. Dabei wurde aus dem Munde eines Handwerksgesellen, der unser Genosse war, die Hoffnung laut, dass der Herr auch ein Zeichen Seines Wohlgefallens zur Ermutigung unsers Glaubens geben könne.“ Und begegneten sich die Freunde in den folgenden Wochen, so fragten sie wohl einander: „Betest du fleißig, dass der Herr uns Seinen Willen und Seine Wege zeige?“
Die nächste Zusammenkunft war für den November vorgesehen, aber schon nach zwei Wochen trug sich etwas zu, was die Freunde als Gottes Einverständnis mit ihrem Plan und als „Handgeld“ deuten durften. Am Vormittag des 25. Oktober war bei dem Oberpostsekretär Hachtmann ein Mann erschienen und hatte ihn gebeten, einen Betrag von 300 Mark als „Reumiete“ anzunehmen. Er brächte das Geld ihm, weil er ja so viel von Armen wisse. Die Verwendung des Geldes überlasse er ihm, aber am liebsten möchte er die Summe für eine erst zu gründende Stiftung verwandt sehen. „Das war“, so fährt Wichern fort, „ein Handgeld vom Herrn. Unvergesslich bleibt mir die späte