Als gescheiteter Jurist, der ich war, wollte ich etwas mit deutscher Sprache machen und bewarb mich um ein Redaktionsvolontariat bei einer Zeitung im Südwesten. Zu meinem Erstaunen bekam ich die Stelle als einer von sechs unter 900 Bewerbern, und scheiterte sogleich als Journalist in jämmerlicher Weise: zu abgründig waren meine Texte, wenn es um Todes- oder Unfälle ging, bei denen ich die Szenerie dreier überschlagener und ineinander verkeilter Autos auf der Bundesstraße samt der Hirnmasse, die sich über den Asphalt ausgebreitet hatte, bildreich beschrieb, statt nüchtern die monotonen Amtsdeutschfakten der Polizeibeamten wiederzugeben, als „Schönschreiber!“ wurde ich geschimpft, was bei einer Regionalzeitung einem Todesurteil gleicht.
Dann wollte ich etwas ganz und gar anderes machen, und verdingte mich als Page in einem Luxushotel in Baden-Baden, doch es entsprach, wie ich nach einer Weile bemerkte, nicht meinem Naturell, das servile Gehabe. Ich schrieb Reisereportagen für Die Zeit, bis mir das Reisen zunehmend anstrengend wurde, mit ersten, sich mir nicht erschließenden körperlichen Kapriolen: Panik, wenn die Tür eines Zuges zuschlug, beispielsweise, der unbändige Drang, die Kabinentür zu öffnen und das Flugzeug zu verlassen, obwohl ein Arzt, der in der Reihe vor mir saß, mir bereits zwei Tavor gegeben hatte. In dieser Reduktion fiel ich bis auf weiteres auf das zurück, das mir am wenigsten ein Bekenntnis zu einer Zunft und Wesensgemeinschaft abverlangte, weil es in der stillen Kammer stattfand: das Übersetzen.
Nachdem Doktor Humpe das Kreuzverhör, wie es mir vorkam, vorerst beendet hatte, untersuchte er mich auf meine Körperlichkeit, maß Puls, Blutdruck und ließ mich aus akupunkturideologischen Gründen die Zunge herausstrecken. Er drückte mich am Bauch und zwickte die Waden, klopfte die Wirbelsäule entlang, horchte mit dem Stethoskop in die Regungen meiner Lunge. Er drückte auf meine Oberarme, und es kam mir vor, als packte er wie der Hirschkäfer eine Fichtennadel, so dünn mußte ihm mein Bizeps vorkommen, und er sagte: „Ihre Muskelmasse ist ein wenig unterentwickelt, und zu dünn sind Sie auch für Ihre Körpergröße, wir werden Sie ein bißchen aufpäppeln“, sagte Doktor Humpe. Er sah mich an und ich ihn, ich sah, wie er zunächst etwas zu sagen zögerte und dann doch noch sprach: „Wir werden auch Ihre distanzierte Haltung ein wenig brechen“, und mir kam es vor, dass er das Wort „brechen“ mit einem aggressiven Unterton sagte.
Nun kam er auf die basisbiographischen Gegebenheiten zu sprechen, mit wem ich wo unter welchen Umständen aufgewachsen war. Er bat mich, meine Mutter zu charakterisieren, und ich sagte spontan: „Wankelmütig, vorwurfsvoll, maßlos überfordert“: mit mir als Kind, mit einem Abendessen, wenn Besuch angekündigt war, mit dem rückwärtigen Ausfahren aus der Garageneinfahrt, beispielsweise. Nachdem ich das Jurastudium abgebrochen hatte, sagte sie: „Das kannst du deinem Vater nicht antun, dass er eines Tages mit dem Gefühl stirbt, aus seinem Sohn ist nichts geworden.“
Ich berichtete, dass mein Vater, seit ich Junge war, schwieg, und als Mann im Elterngefüge selten anwesend war, weil er stundenlange Spaziergänge machte, sich im Keller mit seinen Kriegsschiffchen verbarrikadierte. Als ich später das Studium abbrach, sagte er: „Frauen wollen keine Versager“, danach hüllte er sich erneut in Schweigen, nahezu ohne Unterlaß bis zum heutigen Tag. Natürlich redete mein Vater, über Politik oder Geographie, von Shirin beispielsweise wollte er wissen, aus welchem Teil des Iran ihre Eltern kamen, und er suchte dann Orte und Landschaften in einem Atlas und besah sich noch lange die geologischen und klimatischen Besonderheiten der betreffenden Region. Er wußte durch aufmerksame Zeitungslektüre, wie es sich im Iran mit dem Wächter- und dem Expertenrat verhielt, und wer wen in welche Staatsämter benannte, er wußte, wer die Zarathustra waren und wer die Jünger Mehdis. Doch mein Vater schwieg, wenn es um persönliche Dinge ging, über den Krieg, beispielsweise, seinen Krieg, in den er 1940 als 16jähriger geworfen worden war. Er schwieg, wenn es um unsere, also auch um meine Vergangenheit ging, oder über so etwas wie Liebe, niemals habe ich ihn das Wort Liebe sagen hören. Er war nicht gefühlskalt, er spaltete ab. „Wie meinen Sie das?“, fragte Doktor Humpe.
„Mein Vater leugnet beispielsweise Fakten aus seiner Biographie“, setzte ich an. Ich berichtete von einem Foto, dass ich im Spiegel zu einem Artikel über den Ostfeldzug der Wehrmacht entdeckt hatte: eine braunstichige Schwarzweißaufnahme, auf der ein Soldat eine frappierende Ähnlichkeit mit meinem Vater aufwies, der, das wußte ich damals, mit der Wehrmacht durch den Kaukasus marschiert war; unter dem Foto stand die Bildunterzeile: „Deutsche Kompanie beim Marsch durch die Sowjetunion“. Als ich es näher betrachtete und ein Foto meines Vaters als Schüler, der er vor dem Krieg war, zur Hand nahm, hatte ich keinerlei Zweifel, dass der Mann auf dem Foto mein Vater war, und auch Shirin, die einen Blick auf das Bildnis warf, sagte, dass er es war, zweifelsfrei. Als mein Vater kurz darauf allein bei uns zu Besuch war, betrachtete er recht lange das Foto, das ich ihm nach einem Abendessen mit Wein und Cognac vorgelegt hatte. Er besah es sich lange, schien in Gedanken zu versinken und sagte vielleicht eine Minute lang kein Wort, doch dann streckte er seinen Rücken, legte das Heft beiseite, und sagte: „Nein, das bin ich nicht“. Ich könnte heute noch schwören, dass er es ist.
Doktor Humpe fragte mich, wie ich als Junge war, und ich sagte, ohne nachdenken zu müssen: „Still, verängstigt, introvertiert.“ Als neun- und zehnjähriger und lange noch darüber hinaus versuchte ich, die bösen Männer zu vertreiben, nachdem ich ein verdächtiges Geräusch in der Nacht gehört hatte und aus dem Schlaf geschreckt war, wie mir meine Muter, viel später, als ich schon Erwachsener war, berichtete. Ich zog ein Bettlaken über den Kopf und lief mit ausgebreiteten Armen durch das Treppenhaus und machte „huuh!, huuh!, huuh!“ Meine Eltern waren belustigt, mein Vater hatte einmal ein Foto machen wollen, doch er war zu müde, um im Keller nach dem Blitzgerät zu suchen. Sie nahmen mich dann widerwillig in ihr Schlafzimmer, in dem ich auf dem Boden auf der Gymnastikmatte meiner Mutter schluchzend und vor Angst auf das erste Tagesicht wartete. An den darauffolgenden Morgen, nachdem meine Mutter bereits aufgestanden war und das Frühstück richtete, sagte mein Vater jedes Mal aufs neue: „Ein echter Kerl weint nicht!“, stand auf und verließ das Zimmer.
In dieser Zeit wurde ich schlagartig schlechter in der Schule. Meine Eltern ließen mich ihre Enttäuschung darüber spüren, da ich in der ersten Grundschulklasse so etwas wie ein Klassenprimus gewesen sein muß, sofern das in dem Alter schon möglich ist. Sie steckten mich in Nachhilfeunterricht, an den ich mich kaum noch erinnere, nur vom Logopäden habe ich sehr deutliche Versatzstücke in meinem Kopf. Es habe mir quasi von einem Tag auf den anderen die Sprache verschlagen, sagte meine Mutter einmal, ich habe nicht mehr klar artikuliert, statt dessen undeutlich gesprochen, mit Wortverdrehungen und Lautverschiebungen. Ich erinnere mich, dass ich Texte im Fischers-Fritze-Fische-Genre rauf und runter beten und auswendig lernen mußte. Ich sehe mich in kurzen Hosen, mit einem Kassettenrecorder in die belgische Schule bei uns im Viertel laufen, in der der Logopäde, ein kahler Mann mit grauen Nackenlöckchen und Mundgeruch, seine Privatstunden abhielt. Die Texte waren auf der Rückseite akkurat zurechtgeschnittener und zusammen gehefteter Tapetenfetzen geschrieben.
„Haben Sie Geschwister?“, fragte Doktor Humpe. Still wurde ich, ein sanfter Schwindel entfaltete sich in der Schaltzentrale. „Ich hatte eine Schwester“, sagte ich, „sie starb, als wir neun Jahre alt waren. Ich habe keinerlei Erinnerungen an sie.“ Doktor Humpe sah mich schweigend an, ich sah, wie seine Pupillen sich weiteten, der Blick des Anglers, an dessen Angelhaken soeben ein Karpfen angebissen hat. „Berichten Sie“, forderte er mich mit ruhigem Ton auf. Ein sonderbares, weil frühzeitiges Vertrauen nahm ich in mir wahr, ich war bereit, ihm von meiner Schwester zu berichten, wenngleich ich dazu weitgehend nur als Kolportage imstande war.
Ich wußte so gut wie nichts über den Tod meiner Schwester. Ich nenne sie meine kleine Schwester, obwohl sie 23 Minuten vor mir auf die Welt gekommen war, im Neondämmer des Kreißsaals an einem trüben Wintertag, an dem vermutlich Nieselregen in grauen Schlieren über das graue Brüssel gefallen war. Die Informationen, die meine Eltern mir wie Brotkrumen hinwarfen, waren knapp gehalten wie eine Polizeimeldung in der