Nachdem ich Badehose und Bademantel übergezogen hatte, ging ich auf den Gang, grüßte verschämt mich kaum beachtende Gestalten, betrat den Aufzug. Sonderbar kam es mir vor und ich brauchte eine Weile, bis ich merkte, was es war: während der Fahrstuhl vom Dachgeschoß in den Keller glitt, mischte sich Grillenzirpen unter die gewöhnlichen Ruckelgeräusche, so schien es mir, und ich horchte genau hin und versicherte mich, dass ich unter keiner Sinneseintrübung litt, es war eindeutig das Zirpen einer Grille, das vom Dach des Fahrstuhls herrührte. Ich hörte die Umwälzgeräusche schon in der Ferne und war beglückt, dass das Becken menschenleer war: eintauchen, ein Hauch von schwerelos, kräftige Züge, halbstündig die Zeit aufheben. Als ich schon atemlos war, dachte ich für einen kurzen Augenblick, wie schön es war, nicht zu denken, bevor ich erneut nicht dachte, minutenlang.
Schwarz
Am nächsten Morgen erwachte ich aus einem traumlosen, lang währenden Schlaf, vor meinem Fenster ging die Welt unter. Schwere, gräuliche Wolkentürme schoben sich rasend und mit Wucht beiseite, es toste und tobte, ein wenig gedämpft durch die Scheibe, dennoch schien es mir bedrohlich. Als ich aufstand, bemerkte ich, dass sich in der Düsternis ein weißlicher Schimmer zeigte, und tatsächlich sah ich die vielen weißen großflächigen Flocken, die bei genauer Betrachtung wie grobe Bildpunkte durch mein Sichtfeld jagten, horizontal von der einen Seite zur anderen und auch in umgekehrter Richtung, und doch mußten sie irgendwann zur Ruhe kommen, so weiß wie es auf den Wiesen und Wipfeln war, nur schemenhaft konnte ich den Wald erkennen.
Im Foyer machte sich Betriebsamkeit breit: Frühsportler mit Stöcken kamen mit wäßrigen Flocken übersät hinein, aufrecht laufende Personen mit der Aura von Ärzten liefen vorbei, eine Frau hatte einen Stapel Akten unter dem Arm, mit dem sie aus einem Raum hinter der Rezeption hervorkam und in einem Gang verschwand. Ich reihte mich ein in die vier oder fünf Gestalten, die entlang einer Wand vor den Untersuchungszimmern saßen, ängstlich blickende, unglückselige Kreaturen, denen als Neuzugang genauso unwohl zumute war wie mir. Beschwingt kamen zwei junge Ärzte des Weges, ein recht junger, sportlich aussehender und seine junge Kollegin, die ein wenig aufgekratzt schien, zu hoch die Stimmlage, die Wangen gerötet, sie strahlte uns an und warf uns entgegen: „So, wer mag als erstes…!?“ Niemand mochte so recht sich Blut abnehmen lassen zu früher Morgenstunde, und es dauerte eine Weile, bis der blonde Ärztinnenkopf aus der angelehntgelassenen Tür hervorschaute und uns zugleich fragend und ein wenig beleidigt anblickte, weil sich niemand erhoben hatte.
Noch im Speisesaal machte sich eine wuselige Stimmung breit, hastig liefen die einen heraus, angespannt und steif in der Haltung die anderen. Wenige Minuten vor neun Uhr war ich einer der wenigen, die noch an ihrem Tisch saßen, ein letztes Mal einen Schluck Kaffee tranken, sich einen Löffel Müsli in den Mund schoben. Im Foyer schwappte mir überspannte Erwartung entgegen. Die Menschen saßen an den Tischen im rustikalen Stil, alle dem Foyer, mir zugewandt. Eng saßen sie beisammen, quetschten sich auf Bänke, manche hatten sich auf den Boden gesetzt. Ratlos stand ich vor der Menge und suchte mir eine freie Kante auf einer der hinteren Bänke.
Ein hochgewachsener Mann mit forschem Schritt kam aus dem Kellergeschoß ins Foyer hinein, gefolgt, ein paar Trippelschritte rückversetzt, von einem kleinen Heer an Fachpersonal, von Ärzten, Turnlehrern und Masseurinnen. „Das ist Doktor Fichte“, wisperte eine Frauenstimme hinter mir wie eine Souffleuse, und ein junges Mädchen neben mir sagte: „Aha.“ Doktor Fichte nahm samt seiner beschwingten Entourage Stellung ein, frontal vor uns aufgereiht, er wenige Schritte weiter vorne, eine offenbar eingespielte Formation, und der medizinische Direktor sagte mit einem Blick nach draußen: „Guten Morgen an einem Tag, an dem die Welt untergeht!“, und ich dachte, dass das mein Satz war.
Ich beschloß, der Gruppensitzung fernzubleiben, weil ich wußte, das wäre nichts für mich: mit heulenden Frauen im Kreise sitzen. Vor dem Mittagessen lernte ich meinen Bezugsarzt kennen. Doktor Humpe trug das graue Haar zentimeterkurz, das graue Spitzbärtchen verlängerte sein hervorstehendes Kinn noch ein wenig, sein Körper war drahtig, sogar die Unterarme zeigten zähe Muskelstränge. Er war ein bißchen blaß für seinen Typus und wirkte trotz seiner straffen Muskelmasse ein wenig zerbrechlich, er war nur wenige Jahre älter als ich. Er saß in einem Lehnsessel und ich ihm gegenüber, die Sessel in leicht seitlichem Winkel zueinander, vermutlich um das Konfrontative der Situation aufzuheben. Der Arzt schwang das eine Bein über das andere, sein Hosensaum rutschte hoch, ich besah mir das mit Haarbüscheln übersäte Schienbein, sah die blaue Socke mit einem gelben Schriftzug auf dem Sockensaum: action. „Na, dann wollen wir uns mal kennenlernen“, sagte Doktor Humpe, und ich erwiderte: „Ja, das wollen wir.“
„Vegetative Dystonie, das ist alles und nichts“, sagte er, „beschreiben Sie doch mal Ihre Beschwerden“, und so zählte ich die Symptome der vergangenen Monate auf, die niemals alle zugleich auftraten, zumeist sukzessive, doch manches Mal rotteten sich drei oder vier zu perfider Effizienz zusammen: ein gestörtes Gleichgewicht, das mir ein schwankendes Schiff unter den Füßen suggerierte, eine allgemeine Aufgelöstheit, als schwirrten die Atome auseinander, dann plötzliche Übelkeitsattacken, zumeist in der Nacht, Frösteln, Schwindel, Ohnmachtsanwandlungen, Summen im Ohr und zuckende Blitze im Blick, die die latent vor sich hin wogenden schwarze Wellen überlagerten – eine allgemeine körperliche Starre, miserabler Schlaf mit miesen Träumen, innere Unruhe, angespannte Erschöpfung, rasender Puls, kribbelnde, manchmal taube Arme und Beine, meist auf der linken Seite, Höhenangst und Klaustrophobie, stockender Atem, Absencen und Verwirrungen, eine schreckhafte Grundierung mit Panikmomenten, erhöhte Herzneurose und plötzlich aufkeimende Todesangst, das ganze vor dem Hintergrund einer latenten Schwermut, und ich fügte an: „Ich würde das mit einer gewissen Durchlässigkeit meinerseits zusammenfassen.“
Doktor Humpe, der sich unbeeindruckt gab, musterte mich eine ganze Weile, dann sagte er: „Das ist allerhand“, und ich bestätigte, dass sich auch nach meinem Verständnis einiges angehäuft hatte, das Leben mir schwer und fremd geworden war, und Doktor Humpe sah mich jetzt mit dem Ausdruck unterdrückter Verwunderung an, als er sagte: „Na ja, so viel ist es auch wieder nicht.“
Er hatte einiges mit mir vor, in den kommenden Wochen. Er sagte, er wolle meine Selbstwahrnehmung als Mann stärken, und ich erwiderte: „Aha“. Er beabsichtigte, meine Ängste aktiv und „von Angesicht zu Angesicht“ anzugehen, und vermutlich sagte ich erneut „aha“, während ich kaum wahrnehmlich in meinem Lehnsessel absackte. Es folgte eine Liste mit Hausaufgaben, die ich in den kommenden Wochen zu absolvieren hatte: Ich mußte Briefe schreiben, an mich als kleiner Junge und an Shirin, Frauen im Haus sollte ich fragen, wie sie mich fanden, vorzugsweise schriftlich verfaßt oder von mir protokolliert, Sport. Gleich am nächsten Tag hatte ich in die Laufgruppe zu gehen, am darauffolgenden zur Rückengymnastik und am Tag danach zu Yoga, jeweils um sechs Uhr morgens, und ich sagte: „Ja, ja“, und dachte: Nein, im Leben nicht!
Er befragte mich nach der beruflichen Situation, und ich wunderte mich nicht, dass sie so früh kam, die alles definierende, einordnende Frage: Was macht er denn. Wenn ich nannte, was ich tat, mußte ich meine Auskunft relativieren, weil ich etwas stets zur Zeit tat und es eigentlich das falsche war, ich fühlte mich niemals einem Soziotop zugehörig. Zurzeit, berichtete ich wahrheitsgemäß, war ich Übersetzer, weil ich zweisprachig aufgewachsen war und das Übersetzen auch ein paar Jahre studiert hatte.
Ahnungslos hatte ich zunächst Rechtswissenschaft studiert, um mich zwei Wochen