Der Narzissmus. Fritz Gerlinger. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Fritz Gerlinger
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Сделай Сам
Год издания: 0
isbn: 9783752904024
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      Narzissmus ist heute ein vielgebrauchter Terminus im Alltag und in der Psychologie und nimmt sich die Selbstliebe des mythischen Jünglings Narziss aus der griechischen Mythologie zum Vorbild. Trotzdem ist der Narzissmus-Begriff nicht eindeutig festgelegt, obwohl er oft im Kontext mit einer bestimmten psychologischen Störung steht, die mit Selbstüberschätzung bzw. Selbstsucht und gleichzeitig mit einem geringen Selbstwertgefühl einhergeht. Hier handelt es sich um die fehlende Trennung zwischen Objekt und Subjekt, die in der magischen Phase des Kindes ganz natürlich ist, mit zunehmender Reife jedoch verloren gehen sollte. Bleibt das Bewusstsein jedoch auf sich selbst ausgerichtet und nimmt sich dabei selbst als Ideal zum Vorbild, verschiebt sich die natürliche Ebene und es kommt zu einer psychologischen Störung und Selbstüberschätzung.

      Das magische Bewusstsein des Kindes gehört zur normalen Entwicklung und geht davon aus, dass Worte, Gedanken und Handlungen immer einen Einfluss auf alle Ereignisse haben, die dem Kind widerfahren. Es denkt, es kann bestimmte Sachen hervorrufen oder verhindern, wenn es den Wunsch dazu hat. Alles, was passiert, hängt unmittelbar mit dem eigenen Selbst zusammen. Zwischen Objekt und Subjekt kann das Kind noch nicht unterscheiden. Das ermöglicht die Einbildung von schimmernden Palästen, unsichtbaren Freunden und Monstern unter dem Bett.

      Diese Phase verliert sich in der Regel mit dem Heranwachsen. Das Kind versteht entsprechend, dass die Dinge einen eigenen Zusammenhang haben und sein Einfluss darauf nur bedingt existiert. Bleibt das magische Denken jedoch Teil der Psyche, kommt es zu verschiedenen Persönlichkeitsstörungen, nicht nur zu der narzisstischen, sondern auch zu einer psychotischen oder schizophrenen. Ausdruck dafür ist dann, dass die Wahrnehmung auf sich selbst und die Umwelt verschoben ist, so wie sich das Spiegelbild im Wasser verzerrt, als Narziss hineinblickt und dieses erreichen will. Das magische Denken überwiegt das rationale Denken und äußert sich durch Egozentrismus und Selbstbezug. Ein übersteigertes Bedürfnis, geliebt zu werden, ist genauso Teil der Störung wie der Hunger nach Anerkennung.

      Das ist jedoch noch nicht alles, was den Narzissmus ausmacht. Abgeleitet aus dem Vorbild der griechischen Mythologie geht es um das unerreichbare Selbst, das unbewusst durch ein Ideal-Ich ersetzt werden soll. Das bringt mit sich, dass diese Liebe zu sich selbst stark überspitzt wird, obwohl sie real gar nicht vorhanden ist und als Empfinden unerreichbar bleibt. Wie der Narzisst seine Selbstüberschätzung lebt, wuchert unter dieser Maskerade ein verlorenes und verletzliches Kind, das nicht erwachsen geworden ist und nach Aufmerksamkeit giert. Diese Sucht wird so groß, dass alle Mittel recht sind, um zu bekommen, was es will. Oftmals geschieht das dann auch auf Kosten anderer.

      Die Geschichte von Narziss ist aus den „Metamorphosen“ von Ovid als Dichtung und aus den Schriften von Pausanias überliefert. In der griechischen Mythologie ist er der Sohn des Flussgottes Kephissos und der Wassernymphe Leiriope. Er war von unglaublich strahlender Schönheit und hatte daher auch eine starke Anziehungskraft auf andere Menschen. Als seine Mutter den Seher Tiresias über die Zukunft ihres Sohnes befragte, sagte dieser, er könne sehr alt werden, solange er sich nicht selbst erkennt.

      Als Narziss heranwuchs, wirkte seine Schönheit sowohl auf Männer als auch auf Frauen. Das beeindruckte ihn jedoch nicht, so dass er keines der ihm entgegengebrachten Gefühle zuließ oder auch nur zurückgab. Das mussten auch Amainias und die Quellnymphe Echo erfahren, die beide darüber zu Tode kamen.

      Echos Werben konnte Narziss nicht vernehmen, da sie selbst verflucht und nur in der Lage war, die an sie gerichteten Worte zu wiederholen. Sie machte sich dennoch die Mühe, mit seinen Worten zu jonglieren, bis Narziss sie verstand und ihre Liebe trotzdem zurückwies. Vor Trauer und Liebeskummer löste sie sich auf und hinterließ alleine ihre Stimme als Widerhall. Auch Echo hat psychoanalytische Bedeutung, worauf wir noch eingehen werden.

      Amainias wiederum litt so stark an seiner Liebe zu Narziss, dass er das Schwert, das dieser ihm schenkte, zur Selbsttötung nutzte. Bevor er das tat, rief er jedoch noch verzweifelt die Götter an, seinen Tod zu rächen. Diese Bitte wurde ihm durch Nemesis erfüllt, die als Göttin der Rache und des gerechten Zorns bekannt war. Sie strafte bei Missachtung, Hybris und Selbstüberschätzung. So bekam auch Narziss sein Fett weg und wurde mit einer übersteigerten Selbstliebe bestraft. Als er sich zum ersten Mal leidenschaftlich verliebte, handelte es sich ausgerechnet um das eigene Spiegelbild im Wasser.

      Schon bei Platon galt die Selbstliebe als eines der größten Übel, so dass die Deutung des Mythos darauf gemünzt ist und den Zweck einer moralischen Erziehung hat, die von der Antike bis in das Spätmittelalter reichte und ihren Ausdruck in Kunst, Epos, Traktat und Lyrik fand. Erst in der Zeit der Aufklärung konnte Narziss auch von der humorvollen Seite gesehen werden und war Teil einiger bekannter Komödien. Der Narzisst erschien darin als eitler Mensch, der meistens auf sich selbst hereinfällt.

      Verbunden ist Narziss sowohl mit dem Spiegelbild als auch mit dem Echo. Im Narzissmus ist die Antwort auf den Ruf immer die eigene, und der Spiegel dient nicht der reinen Reflexion, sondern als real aufgefasstes Selbstbild. Das aber, was als Selbstliebe definiert wird, hat mit dem Narzissmus nichts zu tun. Auch in der griechischen Mythologie ist die Selbstliebe eine Bestrafung und nicht ein Zeichen der Eitelkeit.

      Die Geschichte um Narziss wurde verschieden ausgelegt und übermittelt. Die bekannteste Version stammt aus den „Metamorphosen“ von Ovid und besagt, dass Narziss sich über eine Wasserquelle beugt und sich in das Abbild verliebt, ohne zu wissen, dass es sich um ihn selbst handelt. Jeden Tag sitzt er am See und spricht zu dem Abbild, das ihm nicht antwortet. Als er sich vorbeugt, um das Gesicht endlich erreichen zu können, fällt er ins Wasser und ertrinkt.

      Eine weitere Version ist, dass er beim Anblick im Wasser versucht, sein Spiegelbild zu küssen und dabei erkennen muss, dass dies nicht möglich ist. Er wird dabei so sehr von seiner Sehnsucht übermannt, dass er stirbt und sich in eine Narzisse verwandelt.

      Bei Pausanias ist der Mythos von Narziss noch einmal etwas anders überliefert. Während Narziss sich bei Ovid nicht selbst erkennt, verkörpert er bei Pausanias durchaus schon die übersteigerte Selbstliebe. Hier betrachtet Narziss sich im Wasser und genießt seinen Anblick, bis sich eines Tages ein Laubblatt auf das Wasser legt und Wellen erzeugt. Diese verzerren und trüben das Abbild. Narziss ist dadurch so stark über die eigene Hässlichkeit irritiert, dass er an dieser Vorstellung zugrunde geht.

      Eine andere Version erzählt, dass nicht ein Blatt, sondern die Tränen von Narziss die Wasseroberfläche kräuseln und das Abbild verändern. Die Verzweiflung verbrennt Narziss, so dass aus seiner Asche die Narzisse wächst. Diese steht als Blume symbolisch für die Fruchtbarkeit und Frische, ist aber auch eine Todesbotschaft. In Verbindung mit Narziss repräsentiert die Blume tiefes Verlangen und Zuwendung und gilt auch als Gewächs, das rund um den Eingang der Unterwelt blüht.

      Was all diese Deutungen gut aufzeigen, ist das Symptom der Selbstüberschätzung, das auch heute Gültigkeit hat. Narziss liebt weniger sich selbst als das Bild, das er von sich selbst gewonnen hat. Und dieses ist in der Regel völlig verzerrt. Er ist nicht fähig, zwischen sich und diesem Spiegelbild eine Verbindung herzustellen, die harmonisch verläuft und das Selbstwertgefühl stärkt. Das grenzt ihn automatisch auch von anderen Menschen ab, so dass er den Blick immer nur auf sich selbst und kaum auf andere richtet.

      Das ist das eigentliche Dilemma des Narzissten. Innerlich leidet er stärker, ohne sein Unglück bewusst erfassen zu können. Alles, was er hat, ist seine Selbstüberschätzung. Und diese nimmt er weder wahr noch kann er sie ändern. Sie ist das, was ihn aufrechterhält. In ihm herrscht eine Spaltung, die ein verletzliches Selbst mit einem idealisierten überlagert. Das führt zu dem übersteigerten Persönlichkeitsbild, das nahezu perfekt in die moderne Welt passt, die den Narzissmus in sehr bedenklicher Form fördert.

      Narzissmus