„Sie schießen nicht auf mich“, sagte er. „Vielleicht aufs Fenster, aber nicht in meinen Kopf. Geben Sie mir jetzt die Waffe!“
„Passen Sie auf, die legt Sie wieder rein!“, schimpfte Lank, doch Peeters zuckte nur die Achseln.
„Das ist es nicht wert“, sagte sie.
„Meine Pistole“, beharrte Zett.
Peeters rührte sich nicht. Sie zielte immer noch auf ihn, so wie er auf sie. Behutsam hob Zett seine Linke und hatte fast die Waffe gegriffen, da öffnete sich Peeters’ Faust und die Neunmillimeter polterte zu Boden. Peeters nutzte die Schrecksekunde, den Zwiespalt ihres Gegners ... Waffe sichern oder Feind stellen? ... nutzte den winzigen Vorsprung, den sie sich verschafft hatte, um Lanks Rollstuhl am Rad zu packen und von der Schiebetür weg zu kippen, sodass Lank ausgerechnet mit seinem lahmen Kreuz übers Parkett schlitterte, schweigend, ohne Wehlaut, still auch noch, als Zett mit schmerzverzerrtem Gesicht über ihn hinweg sprang und Peeters zu Boden warf.
Auf dem blanken Fischgrätparkett drei lädierte Körper und der umgekippte, wild piepende, Hightech-Rollstuhl. Jetzt allerdings macht Zett Ernst. Ein Schlag an den Hals raubt Peeters den Atem. Noch während sie japst, trifft der Kolben seiner Waffe sie über der Nasenwurzel. Niemand ist so leicht zu kontrollieren wie ein Gegner, dessen Tränendrüsen gerade den Impuls für maximalen Ausstoß bekommen. Allerdings tut der Hieb auch Zett nicht gut. Anfangs wallt der Schmerz noch scheinheilig langsam aus der Hand über Arm und Schulter in den Brustkorb, beschleunigt dort aber und bohrt sich zuletzt hochtourig in den Solarplexus.
Nun übernimmt vollends der Berserker das Kommando, der Berserker in Zett, dem Scham, Furcht, rotglühender Schmerz und das nie mehr abwaschbare Gefühl von Cloerkes’ Gehirnklümpchen durch die Synapsen rasen. Dieser Berserker schließt die Faust um Peeters’ Kehlkopf und drückt ihr die Mündung seiner Smith & Wesson in den Augenwinkel, dort, wo es schön weich ist. Das tut der Hand nicht weh.
2. Köln und Venedig. 17. bis 18.11.2003
Mit Autobomben bei den Istanbuler Synagogen Newe Schalom und Beit Israel hatte der antisemitische Terror, in der Türkei völlig neu, auf einen Schlag vierundzwanzig Tote und zweihundertfünfzig Verletzte gekostet. Während die Fernsehbilder von der Straße zum Galataturm liefen, die Zett selbst oft genug mit bandagiertem Gesicht hinauf gestapft war zur postoperativen Nachsorge, hatte er den Gestank von Betaisodona nicht aus der Nase gekriegt.
Nur allmählich fand er zur gewohnten Form zurück, dank abgeschaltetem Fernseher und leeren Mailboxen – und auch nur so lange, bis er im Flur den Umschlag entdeckte, der unter der Tür seiner Altbauwohnung durchgeschoben war. Unfrankiert. Ohne Adresse oder Absender. Fünf Fünfhunderteuroscheine für Spesen und ein Brief, der begann:
„Verehrter Doktor Zett! Wir sind weder Hisbollah noch Al Quaida, was Sie unschwer daran erkennen, dass Sie bei bester Gesundheit Staub wischen, während zwei Fenster zum Lüften offen stehen und uns perfektes Schussfeld bieten ...“
Dann ging der anonyme Absender bestürzend genau auf Zetts windige Doktorarbeit über den Ursulalegendenzyklus im Wallraf-Richartz-Museum ein, blieb ansonsten aber ziemlich vage und schloss:
„Falls unser Angebot Sie kalt lässt, was immerhin sein könnte, denn weltweit führt kein Broker Ihren neuen Namen in seiner Kartei, machen Sie sich mit den Spesen einen schönen Abend. Bei Interesse jedoch suchen Sie uns bitte morgen in Venedig auf.“
Angebot? Welches Angebot?
An die so genannte Promotion mochte Zett gar nicht mehr denken. Er hatte, während er auf diverse Ziele schoss, eine Menge kunsthistorisches Zeugs geschrieben, hauptsächlich als Co-Autor von Willem Cloerkes. Und dass das Thema seiner Turbo-Dissertation, dieses überlebenswichtigen Mosaiksteinchens der neuen Identität, damals mehrfach willkürlich geändert worden war ... Schwamm drüber! Wer wusste schon, was in Professor Sturgesons korruptem Gehirn vorging? Nun schien es aber plötzlich so, als wäre damals eine dritte Partei beteiligt gewesen. Oder zumindest informiert. An sich schon beunruhigend genug. Partei? Vielleicht Allahs Partei? Hisbollah ...?
Schon die Erwähnung der Hisbollah machte Zett paranoid, zumal ihm tags darauf vor dem Reiterdenkmal Colleonis einfiel, dass hier ein betrogener Söldner in Bronze gegossen stand. Als man Zett aus dem Frühstücksraum zum Telefon in der Lobby gerufen hatte, um diesen Bronzereiter als Treffpunkt zu bestimmen, hatte er die Fakten nicht präsent gehabt, doch jetzt war ihm qualvoll bewusst, dass Colleoni, um der Gier der Serenissima ein Schnippchen zu schlagen, die Republik zur Alleinerbin bestimmt hatte, mit der einzigen testamentarischen Auflage, ihm vor San Marco ein Denkmal zu setzen. Leichtsinnigerweise schrieb er nicht ausdrücklich: vor der „Kirche“ San Marco. Die Republik wartete also den natürlichen Tod ihres Condottiere ab, kassierte die Barschaft, beackerte geerbte Ländereien und errichtete sein Standbild vor San Marco, allerdings nicht vor der Kirche, sondern vor der Scuola Grande di San Marco – dem zugegebenermaßen prächtigsten Gildenhaus der Stadt.
Das sähe Hisbollah ähnlich, dachte Zett, ihn mit perfidem Humor in die Falle zu locken! Da würden sie sich auf Taqīya berufen, die koranische Erlaubnis, im Kampf gegen Ungläubige zu lügen.
Es war eine rauchige Frauenstimme gewesen, morgens am Telefon im Hotel. Sie wussten also, dass er kein Handy benutzte, nicht geortet und nicht permanent abgehört werden wollte. Die Stimme aus dem vorsintflutlichen Bakelit-Hörer hatte ihm aufgetragen, er möge ein Tagesbillett für die Vaporetti kaufen und zum Colleonidenkmal kommen. Dort klebe am Gerüst der Restauratoren ein roter Zettel, Kanalseite, unterste Querstange.
Ein arabischer Straßenmusikant spielte eine Art Dudelsack. Kopfschüttelnd eilte eine Gruppe Venezianerinnen an ihm vorbei, die solche Töne in den Tagen Istanbuler Terrors wohl unangebracht fanden. Nur die jüngste der Frauen blieb stehen und hörte zu. Zett bückte sich routiniert, wie um die Schnürsenkel fester zu binden. Zwanzig Schritte weiter, hinter der Kirchenwand von Zanipolo, befanden sich das Epitaph und die abgezogene Haut Marc’Antonio Bragadins, den die Türken bei Famagusta so grausam getäuscht hatten. Dieses ausgeklügelte Arrangement betrogener Kämpfer war doch kein Zufall, verdammt!
Er las: „Fahren Sie zum Supermercato am Zattere und kaufen Sie dort die oberste Tube Zahnpasta Hyperdental. Hinter der Kasse öffnen Sie die Schachtel und lesen den Beipackzettel. Vernichten Sie jetzt diese Nachricht!“
Mit trübem Blick auf Colleoni, den posthum übervorteilten Bronzereiter, zerknüllte Zett das Papier und schnippte es in den Rio dei Mendicanti. Er war nicht mehr jung und brauchte das Geld – Hisbollah hin, Paranoia her.
Machte ihm jemand Zeitvorgaben? Nein! Also fuhr Zett den denkbar umständlichsten Weg, um herauszufinden, wer ihm durch mehr als zwei Wasserbusse folgte. Und bald hatte er den osteuropäischen Lockenkopf entdeckt. Ihre Hand trommelte mit langen, unlackierten Fingernägeln auf dem Holz der Gepäckablage. Peinlich achtete sie darauf, dass ihr Haar nicht die fettige Scheibe der Bootsbrücke berührte. Ganze fünf Mal musste sie mit ihm umsteigen, bevor Zett ihr den Gefallen tat, den Supermarkt anzusteuern.
Dort folgte er eine Weile der Putzmaschine, trödelte durch die frisch gewienerten Gänge und zog sogar die vorgeschriebenen Plastikhandschuhe über, um die Qualität unverpackter Birnen zu prüfen. Schließlich verlor sein eleganter Schatten die Nerven und rauschte an ihm vorbei zur Kasse, wohl um ihn draußen vor dem Eingang abzupassen. Was sie aufs Band legte, war ausgerechnet eine Zahnbürste – vielleicht ein Gag zu viel für Hisbollah. Vielleicht gehörte sie ja zu den neuen Auftraggebern. Jedenfalls merkte Zett, wie sich ein Teil seiner Verkrampfung löste, während er las: „Nehmen Sie beim Anleger Accademia die nächste Verbindung zur Fondamenta Nuove. Von dort fahren Sie nach Torcello und kommen zum Bootsanleger hinter Santa Maria Assunta.