Der Schatten in mir. Christian Milkus. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christian Milkus
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742770752
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reagieren, wenn ich ihr von meinem Traum erzählte? Ich wollte es lieber nicht riskieren, und so blieb mir nichts anderes übrig, als mein dunkles Geheimnis für mich zu bewahren.

      Dunkle Wolken hingen über Schwarzbach und hüllten es in eine bedrückende Dunkelheit. Ein kalter Wind fegte zwischen uns hindurch und wirbelte meine Haare auf. Mit verschränkten Armen stand ich vor dem Grab und wartete auf die Rede. Ich sprach mit niemanden, und niemand sprach mit mir. Alle schauten in die Grube, in der ein Tuch gnädig die schlimmen Wunden des Leichnams verdeckte.

      Nachdem Tomasʼ Grab mit Erde aufgefüllt worden war, verharrten wir für einen langen Moment der Stille. Dann trat Sara hervor, um die Abschiedsrede für ihren verstorbenen Ehemann zu halten, doch sie stotterte und brachte kaum einen ganzen Satz hervor. Sie fing an zu weinen und musste abbrechen.

      Aminta ging zu ihr, nahm sie in die Arme und erklärte ihr, wie tapfer sie gewesen sei. Darauf wischte sie sich Augen und Nase ab und sprach selbst die letzten Worte für den Verstorbenen.

      »Tomas«, sagten wir alle gemeinsam, nachdem Aminta geendet hatte. »Teil unserer Seele, Teil unseres Geistes. Kind des Waldes und Kind unseres Dorfes. Mögest du den Pfad des Lichts beschreiten und Frieden im Jenseits finden.«

      Was diese Worte genau bedeuteten, wusste ich nicht. Wir sprachen sie bei jedem Begräbnis, und jeder kannte sie auswendig. Das Ritual half uns dabei, von den Verstorbenen Abschied zu nehmen.

      Anschließend nahm jeder etwas Erde in die Hand und warf sie auf das Grab.

      »Von jetzt an müssen wir vorsichtiger sein«, rief Kolen. »Wir gehen nur noch in den Wald, wenn es absolut nötig ist.«

      »Es ist jederzeit absolut nötig«, sagte Ronja und ging einen Schritt auf Kolen zu. »Wir brauchen Holz, Nahrung und Wasser – jeden Tag.«

      Einzelne Bewohner murmelten Zustimmung. »Der Wald ist unser Leben«, hieß es.

      »Zumindest sollten wir nicht in der Dämmerung in den Wald gehen«, sagte Kolen. Der Wind zerrte unablässig an ihm, seine Haare flatterten, einzelne Strähnen klebten ihm im Gesicht.

      »Willst du uns vorschreiben, wann wir in den Wald gehen dürfen und wann nicht?«, fragte Ronja mit erhobener Stimme.

      Ich war nicht die Einzige, die mit den Augen rollte. Immer diese dämlichen Spielchen, wer lauter brüllen konnte, und Ronja war stets vorne mit dabei.

      »Ich sage nur, wir müssen vorsichtiger sein.«

      »Du sagst, wir sollen uns in Ketten legen. Gefangen im eigenen Dorf wie in einem Kerker!«

      Kolen wollte etwas antworten, aber Ronja kam ihm zuvor: »Verkriechen ist nicht meine Art!«

      »Ihr habt beide recht«, sagte Tarlow. »Wölfe werden erst aktiv, wenn die Sonne hinter dem Horizont verschwindet. Tagsüber sollten wir sicher sein; in der Dunkelheit müssen wir aufpassen.«

      »Wir sollten vor allem nicht mehr allein gehen«, fügte Kolen hinzu.

      »Oder ohne Waffen«, sagte Ronja.

      »Waffen? Ich glaube nicht, dass Waffen …«

      »Wer von euch hat eine Waffe?«, rief Ronja, bevor Kolen seinen Satz zu Ende sprechen konnte.

      Tarlow meldete sich zuerst: »Ich hab noch mein rostiges, altes Schwert zu Hause. Einem Ritter würde ich damit nicht entgegentreten, aber es reicht, um einem Wolf die Kehle aufzuschlitzen.«

      »Ich habe eine komplette Rüstung, ein Kettenhemd und zwei Messer«, sagte Sir Caster. »Allerdings nur ein einziges Schwert, und ich habe nicht vor, es jemandem auszuleihen.«

      »In meinem Haus steht einiges herum«, sagte Carl. »Zwei oder drei der Bögen müssten funktionieren, dazu ein Speer und zahlreiche Messer. Die Waffen sind alle zum Jagen geeignet.«

      »Bei mir müsste noch ein alter Kriegshammer rumliegen«, sagte Jack.

      Weitere Bewohner meldeten sich, einige besaßen Äxte zum Holzfällen, ansonsten nur noch kleine Messer. Ich hätte auch mein kleines Messer mit dem Pilzgesicht erwähnen können, aber wozu? Ich würde damit sicher nicht auf Wolfsjagd gehen.

      »Wir sollten nicht vorschnell handeln«, rief Kolen. »Zu den Waffen zu greifen, ist keine Lösung.«

      »Und was ist deiner Meinung nach die Lösung?«, fragte Ronja.

      »Wir müssen ruhig bleiben und uns auf unsere Arbeit konzentrieren. Mit Tomas hat das Dorf einen weiteren Bewohner verloren, und wir müssen seine Arbeit unter uns aufteilen. Ab jetzt muss jeder von uns härter anpacken.«

      »Deine Parolen langweilen mich, Kolen! Wo ist deine Lösung?«

      »Zumindest dürfen wir nicht in Angst verfallen und erst recht nicht in Panik!«

      Ronja kratzte sich am Kopf. »Entweder wir stellen uns den dunklen Mächten, oder wir hauen ab.«

      »Welche dunklen Mächte?«, fragte Kolen.

      »Du willst es immer noch leugnen?«

      »Tomas starb durch die Klauen der Wölfe, nicht durch Schwarze Magie!«

      Jetzt kratzte sich Ronja am Hals. »Du willst mir erzählen, das war Zufall? Erst das Mädchen, jetzt die Wölfe?«

      »Natürlich war das Zufall! Wir sind weder verflucht, noch suchen uns dunkle Mächte heim. Du bildest dir das ein!«

      Ronja wandte sich an uns. »Was sagt ihr, bilde ich mir das ein?«

      Niemand antwortete.

      »Bilde ich mir das ein?«, brüllte sie so laut, dass ich erschrak.

      »Nein«, sagten mehrere Bewohner, manche laut, manche leise, einige schüttelten den Kopf.

      »Sieh und hör genau hin!«, forderte Ronja Kolen auf und spuckte ihm vor die Füße. Sie kam einen weiteren Schritt auf ihn zu und reckte ihr Kinn. »Und jetzt sag mir noch einmal ins Gesicht, ich bilde mir etwas ein!«

      Ronja schaute ihn eine Weile lang an. Er jedoch vermied ihren Blick und schaute ängstlich zur Seite. Als sie sich sicher war, keine Antwort mehr zu erhalten, grinste sie hämisch, dann stapfte sie davon.

      Kolen blieb stehen und schaute Ronja hinterher, danach blickte er nachdenklich in Richtung seines Hauses und schien sich nicht mehr bewegen zu wollen.

      Die Gestalt kletterte einen Baum hoch. Um sie herum flatterten Laubblätter, gelb und rot, angestrahlt von einem hell leuchtenden Kreis. Schon wieder dieser Kreis! Er war so weit weg von mir, hoch oben schwebte er am Himmel, höher als jeder Baum. Ich legte den Kopf in den Nacken und schaute zu ihm hinauf. Er blendete mich so stark, ich musste die Augen zusammenkneifen. Doch ich kämpfte gegen die Helligkeit an, schließlich wollte ich ihn unbedingt betrachten, wollte ihn in all seiner Pracht bewundern, wollte allen Menschen von seiner Schönheit erzählen.

      An dem Kreis hing etwas. Verzierungen? Zeichen? Symbole? Es war nicht einfach nur ein Kreis.

      Siehst du diesen Kreis?

      Die Person schien mich nicht zu hören. Sie summte ein Lied und kletterte die Äste entlang. Sie war glücklich, ihre Aufgabe schien ihr Spaß zu machen. Leider konnte ich nicht erkennen, wer sie war – ich sah nur ihre Umrisse. Sie sah aus wie ein Schatten.

      Was ist das für ein Kreis und was hängt an ihm dran?

      Die Gestalt antwortete nicht. Ich musste es selbst herausfinden. Was auch immer auf dem Kreis war, es war nicht gleichmäßig angeordnet. Eines der Symbole stand für sich allein, den anderen gegenüber, so weit weg von ihnen wie möglich. Warum war das so?

      Der Kreis fing an, sich zu bewegen. Zunächst langsam, dann immer schneller. Er flog über den Wald, weg vom Dorf, weg von mir, immer weiter, bis er schließlich aus