Sie ist wieder da. Michael Sohmen. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Michael Sohmen
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742799357
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eine Notlüge. Nichts war in Ordnung. Ganz und gar nichts. Es hatte mich durchdrungen wie ein Schock. Was für eine Katastrophe!

      So ergab sich aus dem ganzen Puzzle plötzlich ein klares Bild. Das merkwürdige Verhalten dieser Leute, die mir keine vernünftigen Antworten geben wollten. Sie taten dies, weil sie es nicht konnten. Wir hatten auf zwei unterschiedlichen Ebenen kommuniziert. Auf verschiedenen Zeitebenen. Ich befand mich bis soeben im damals und sie in der Gegenwart. Beide Seiten hatten völlig aneinander vorbeigeredet.

      Ich durchforstete mein Gedächtnis auf das, was sich zuvor ereignet hatte. Es war Bundestagswahl. Ich erinnerte mich mit Grausen daran, wie sich die ersten Hochrechnungen entwickelt hatten. Ein entsetzlicher Tag. Die SPD war weit abgeschlagen und wurde sogar von der Linken überholt. Gleichzeitig schossen die Wahlergebnisse für die Rechtsextremen in die Höhe und überholten zeitweise sogar die Union. An diesem Punkt endeten meine Erinnerungen. Dort setzte wohl mein Blackout ein. Seitdem waren Jahrzehnte vergangen und ich lebte nun in einer vollkommen anderen Zeit. War das gruselig! Ich musste einiges nachholen. Das mit dem Telefonieren hatte sich nun erledigt. Nach so vielen Jahren würde wohl keiner meiner Berater noch im Amt sein.

      »Gibt es hier irgendwo die Möglichkeit, eine Zeitschrift zu erwerben?«

      »Sie suchen Lektüre? Am Ende des Klinikgeländes finden Sie einen Kiosk.«

      »Danke für Ihre Hilfe.« Erleichtert trat ich aus dem Gebäude heraus. Es tat mir gut, ein Ziel zu haben und ich war froh, die kalten weißen Hallen hinter mir zu lassen und nicht mehr den Geruch von Desinfektionsmittel in meiner Nase zu haben. Angenehm frische Luft wurde von dem leichten Windzug herbeigetragen, der meinen Geist aufleben ließ und die düsteren Gedanken fortnahm. Ein Hauch von Sonnenlicht fiel auf den kurzgeschorenen Rasen, als ich die gepflasterte Einfahrt hinabging. Über der Ebene ragte eine Gebirgskulisse. Die Berge, um deren Gipfel sich Wolken versammelt hatten, schienen so nah zu sein, dass sie möglicherweise zu Fuß erreichbar waren. Der mit Klinikum Garmisch-Partenkirchen beschriftete Wegweiser erklärte mir auch, wo genau ich mich gerade befand. Dies waren die Münchner Hausberge am Rand der Alpen. Ein schöner Ort, um aufzuwachen.

      Diese kleine Bude an der Ecke fand ich sogleich, hielt darauf zu und betrachtete die Auslagen. Das Meiste war mir jedoch unbekannt. Nur diese alten Groschenromane liefen offensichtlich immer noch. Zwischen den Sportzeitschriften und diversen Fan- und Hobbyzeitschriften konnte ich seltsamerweise kein einziges politisches Magazin finden.

      »Kann ich Ihnen helfen?« Ein freundlicher Herr mit verfilzten Haaren blickte mich durch seine Brillengläser an. Ihm war schon aufgefallen, dass ich in diesen Druckwerken ohne Erfolg nach etwas gesucht hatte. Der Mann sah aus wie ein Grüner. Wie einer der Ursprünglichen, die ich auf Archivbildern aus Zeiten vor dem Mauerfall gesehen hatte.

      »Ich suche ein politisches Magazin. Den Stern, Spiegel oder Focus. Von mir aus auch die Bildzeitung.«

      »Bis auf den Spiegel sagen mir diese Namen nichts. Aber den verkaufen wir in Bayern nicht. Die Zeitschrift erhält man nur in der Islamischen Republik Deutschland. Deren Politik unterstützen wir auf keinen Fall und verkaufen deswegen auch nicht ihre Propagandablätter.« Er sah mich an und wartete offenbar auf die nächste Frage. Doch ich war sprachlos. »Ein politisches Magazin also …« Er zeigte zu den Zeitschriften auf der Ablage. »Wie wäre es mit der Titanic?«

      »Nein!« Alles in der Welt, nur das nicht! Warum musste gerade dieses widerliche und von Schmierfinken produzierte Machwerk das Einzige sein, das immer noch verkauft wurde? Ich las den Titel der Zeitschrift, die daneben lag: O'zapft is! Was für ein lustiger Name. »Manche Dinge ändern sich wohl nie. Mag der Rest der Welt untergeh'n, auf der Wies'n wird g'feiert!« Ich versuchte, etwas Schwung in unseren Dialog zu bringen und hoffte, der Mann nahm mir den kleinen Scherz in Pseudo-Bayrisch nicht übel. Doch er starrte mich entsetzt durch seine schmale Brille an.

      »So hätte ich Sie gar nicht eingeschätzt!«

      »Das tut mir wirklich leid! Ich wollte Sie nicht kränken!« Der Mann hatte ausgesehen, als hätte er Humor. Doch selbst dem lustigsten Bayern schien es nicht zu gefallen, wenn jemand seine Mundart nachäffte. Ich wechselte schnell zu meinem eigentlichen Anliegen. »Vielleicht könnten Sie mich etwas beraten, da ich bei ihrem Angebot nicht so recht durchblicke. Ich hätte gerne ein politisches Magazin. Irgendeines. Nur nicht die Titanic!«

      »Es gibt nur diese Beiden. Ich kann Ihnen gerne O'zapft is! verkaufen, obwohl ich die rechtsextremen Ansichten dieses Blattes ablehne.«

      »Ein politisches Magazin? Ich hätte darauf getippt, dass es etwas mit dem Oktoberfest zu tun hat. Zumindest mit Bier.«

      »Ach so!« Seine Miene wurde wieder freundlich. »Sie scheinen Einiges nicht mitbekommen zu haben, was sich in den letzten Jahren ereignet hat. Politik, oder was sich auf der Welt abspielt, ist wirklich nicht Ihr Spezialgebiet, oder irre ich mich?«

      »Nun … ich beginne gerade, mich für solche Themen zu interessieren.« Das stimmte zwar in keinster Weise, aber ich hatte keine Lust, ihm meine ganze Lebensgeschichte auf die Nase zu binden.

      »Es ist so: das Oktoberfest findet schon seit vielen Jahren nicht mehr statt. Die meisten Münchner haben sich damit mittlerweile abgefunden. Es gibt aber immer noch Ewiggestrige, die fordern die Wies'n zurück.«

      »Dieses Gelände gibt es nicht mehr?«

      »Natürlich nicht, nachdem an der Stelle das Migrantenstadl errichtet wurde. In der bestgesicherten Anlage von ganz Bayern werden die schwierigsten Jungs aus den nordafrikanischen Staaten untergebracht. Ich mag diese Einrichtung genauso wenig. Aber die Menschen sind nun mal da. Und wer die Wies'n zurückfordert, der macht sich das zu einfach. Man kann die Leute ja nicht einfach … verschwinden lassen! Jedem ist bekannt, dass allein der Titel dieser Zeitschrift äußerst radikal ist.«

      »Jetzt kann ich Ihnen gerade nicht folgen«, gab ich zu.

      »Das wissen Sie auch nicht? Der Spruch hat sich als Gruß unter den Neofaschisten durchgesetzt. In Erinnerung an alte Zeiten sagt man O'zapft is! und hebt dabei den rechten Arm.«

      Jetzt hatte ich genug gehört. Das musste ich erst einmal verarbeiten. Zwar war ich niemals ein großer Fan des größten Saufgelages der Welt, dies waren jedoch keine guten Neuigkeiten. Definitiv nicht. Nun hatte man auch noch den Ausruf beim feierlichen Fassanstich zum Hitlergruß umfunktioniert. Doch war irgendein Magazin besser als gar keines. Ich war sehr gut in der Lage, mir selbst aus einer Propagandaschrift die eine oder andere Information mit kritischem Blick herauszufiltern, ohne mir den Inhalt zu eigen zu machen.

      »Wenn Sie sonst wirklich nichts anderes haben, nehme ich diese Zeitschrift.«

      »In Ordnung. Das macht achtzehn fünfzig.«

      Ein satter Preis für so ein dünnes Magazin. Doch durfte ich nicht ignorieren, dass mittlerweile mehrere Jahrzehnte vergangen waren. Ich reichte ihm einen Zwanzig-Euro-Schein. Er zögerte.

      »Wo haben Sie denn den her?« Er lachte laut. »Der hat fast schon Sammlerwert. Aber ich bin kein Liebhaber von solchem Kram. Damit kann ich leider nichts anfangen.«

      »Womit bezahlt man denn sonst?«, rutschte es mir heraus. Ich wollte mich eigentlich nicht in Erklärungsnot bringen. Doch hatte ich ihm gerade den fatalen Hinweis gegeben, dass hinter meiner ganzen Geschichte viel mehr steckte, als ich zugeben wollte. Er stutzte kurz, schien jedoch zu merken, wie unwohl mir diese Situation war und ging darüber hinweg.

      »Franken! In Bayern ist der Schweizer Franken die offizielle Währung. Wie in Österreich.«

      Okay – soweit zum Thema Euro-Krise. Wenigstens hatte man inzwischen eine Lösung gefunden. Ich kramte in meiner Geldbörse nach einem der großen Scheine. Üblicherweise hatte ich immer etwas Geld der gängigen Fremdwährungen dabei.

      »Himmel! Was für ein alter Geldschein! So einen habe ich schon seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen. Aber er wird wohl seine Gültigkeit noch nicht verloren haben.« Nachdem er mir das Rückgeld herausgegeben hatte, starrte er mich an, als hätte er gerade eine Erleuchtung. »Gerade kommt mir etwas in den Sinn. Ich glaube, ich weiß, was los ist. Sie kamen ja gerade aus der Klinik … aber ich will Sie nicht verhören!