Sie ist wieder da. Michael Sohmen. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Michael Sohmen
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742799357
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angenommen hatte, schockierte mich mehr als je zuvor. Man hatte mir immer wieder vorgeworfen, dass ich den Bereich kaputtgespart hätte. Als könnte ich für alles, was auf der Welt passierte, verantwortlich sein. Bis in die kleinsten Lebensbereiche. Wenn schon, hätten sie das dem Schäuble vorwerfen können – oder dem Gesundheitsminister. Wie hieß der nochmal? … Egal, der Posten ist sowieso ein Schleudersitz. Jetzt wünschte ich mir, dieser Seehofer würde immer noch dieses Amt innehaben, dann könnte er mir nicht ständig in die Bundespolitik hineinpfuschen. Doch eines musste ich ihm zugestehen: er war einer der wenigen halbwegs befähigten Gesundheitsminister gewesen. Wenn ich an seine Nachfolgerinnen Fischer, Schmidt und den Rösler dachte, kam mir immer noch das Grauen. Manchmal wünschte ich mir das Gesundheitssystem der DDR zurück. Andererseits war dies fast das Einzige, was im Sozialismus funktioniert hatte und daher hatte ich mich mit dem System der Bundesrepublik schnell anfreunden können. Man gab sich sehr viel Mühe, auch wenn nicht alles perfekt war. Doch warum - das fragte ich mich immer wieder - mussten sich alle immer bei mir beschweren und fordern, ich müsste unbedingt etwas unternehmen, wenn es jemandem irgendwo wehtat oder wenn man sich ungerecht behandelt fühlte. Als könnte es diese einzige Person richten, die gerade das Kanzleramt führte. Benzinpreise wären zu hoch und die Kanzlerin sollte dafür sorgen, dass der Sprit billiger würde. Kurz darauf waren die Ölpreise viel zu niedrig und deswegen jammerten sie alle abermals. All ihre Ersparnisse hätten sie in Öko-Energie investiert und riskante Wetten auf das vielversprechende Fracking abgeschlossen, plötzlich wäre ihre gesamte Altersvorsorge futsch aufgrund des niedrigen Ölpreises. Ich konnte eben nicht zaubern und mich nicht um jedes Wehwehchen jedes Einzelnen im Alleingang kümmern. Wir waren eine Demokratie. Regieren hieß nicht mehr oder weniger, das Land zusammenzuhalten. Anders als eine Diktatur, in der eine Person über alles bestimmte. Nicht 'der Staat bin ich' – nein, selbst als Kanzlerin war ich nur ein Rad an diesem Wagen. Vielleicht war ich ein größeres Rad als ein Durchschnittsbürger. Aber nicht das einzige. Mit einem fährt es sich zudem nicht gut. Deutschland wäre nicht Exportweltmeister geworden, wenn unsere starken Firmen Mercedes, Volkswagen, BMW, Audi oder Porsche ihre Autos nur mit einem Rad ausgeliefert hätten. Sie hatten den Dreh raus, lieferten alles mit vier Rädern. Plus Ersatzrad. Und Lenkrad – abgesehen von diesem komischen Joystick, der sich niemals durchgesetzt hatte. Solange diese Fahrzeuge noch nicht selbst fuhren. Die einzige Firma, die schwächelte, war Opel. Die Firma gehörte aber nicht uns, sondern war ein Subunternehmen unserer amerikanischen Freunde. Natürlich wollte ich nicht schlecht über sie reden, da wir ihnen den Frieden auf der Welt verdankten. Bis auf die Länder, in denen Bürgerkrieg herrschte, Staaten wie … das ginge jetzt jedoch zu weit. Gute Freunde durften auch Fehler machen. Selbst größere. Bei katastrophalen Dummheiten konnte man sich notfalls auch von Menschen trennen – denn wer wollte schon mit einem Amokläufer oder einem Terroristen befreundet sein. So einfach lief es in der großen Politik aber nicht. Da war es wie in einer Familie. Man konnte sich die Verwandten nicht aussuchen, man muss ihnen beistehen. Auch jemandem wie diesem Bush junior und selbst diesem Trump. Ursprünglich dachte ich, das gebe ich zu, der junge George wäre jemand, der vorangehen würde und den Frieden im Nahen Osten wiederherstellen könnte. Aber ich hatte dazugelernt. Die fatalen Defizite der Amerikaner hatten sich erst viel später gezeigt. Unsere Bundeswehr leistete damals Unglaubliches beim Wiederaufbau der Infrastruktur, die Ausbildungsprogramme für die innere Sicherheit waren vorbildlich. Ursprünglich hatte ich darauf vertraut, dass die Amerikaner etwas Ähnliches zustande bringen würden. Weil ihnen das in Deutschland so unglaublich gut gelungen war, würde das auch im instabilen Nahen Osten funktionieren. Die US-Marines und ihre Armee waren aber mittlerweile spezialisiert, feindliche Objekte auszuschalten. Es war ihnen geglückt, Menschen wie Bin Laden, Saddam Hussein und Gaddafi zu beseitigen – viele andere dürfen aus Gründen der Vertraulichkeit natürlich nicht genannt werden. Letzten Endes war es jedoch nur eine Show für die Medien, damit die US-Bürger sich als Weltmacht fühlen konnten, ihrem Präsidenten vertrauten und sich nicht über die immensen Militärausgaben beschwerten. Für Amerikaner ist Fernsehen das, was für uns die reale Welt ist. Die Grenzen zwischen Lüge und Wahrheit wurden dort durch Bild-Ton-Technik völlig aufgehoben, das musste ich bald schmerzlich feststellen. Geschickte Populisten konnten über dieses Medium Gerüchte streuen, die umso glaubwürdiger wirkten, je schlimmer sie waren. Zuerst war es mir recht, weil es bei uns eine aktive Gegenpropaganda durch das quasi staatlich finanzierte Fernsehen gab, um dieser plötzlich auftauchenden Reinkarnation des Nationalsozialismus Paroli zu bieten. Die Wirkung war jedoch völlig anders als erwartet und vergrößerte das Problem nur noch. Die rechtsextreme Pegida-Bewegung fand immer mehr Zulauf und gleichzeitig bekam Deutschland den Ruf, das Sozialamt der Welt zu sein. Ich wollte gar nicht wissen, wie viele antisemitische Araber von den Bildern rechtsextremer Demos in unser Land angelockt wurden. Nein! Das durfte einfach nicht sein. Definitiv kamen die meisten aus anderen Gründen. Genug der Philosophie jetzt! Ich war kein Mensch, der große Reden schwang, die sich um das Nichts drehten. Dafür waren meine Kollegen von der SPD zuständig … wie dieser Erzengel. Das nächste Mal würde ich ihn damit aufziehen und erzählen, dass ihn hier keiner kannte! Das war jetzt aber nicht wichtig, denn ich bin eine Frau der Tat. Ich hatte immer einen Plan, egal wie man ihn auch nennen mochte, Plan A oder wie auch immer. Jetzt war es wichtig, ein Telefon zu finden oder eine andere Kommunikationsmöglichkeit. Eine Verbindung zur Außenwelt. Egal was. Irgendetwas benötigte ich, um mir ein Bild zur Lage der Nation verschaffen zu können.

      Ich begab mich hinunter zum Empfang. Die Dame, die gelangweilt in ihrem Glaskasten saß, erhob sich sogleich und lächelte. Hoffentlich fragte sie nicht nach einem Selfie mit der Kanzlerin. Im Moment hatte ich absolut keine Lust auf dieses Ich-will-auch-ein-Foto-mit-Merkel. Nicht in diesem Zustand.

      »Kann ich etwas für Sie tun?«

      »Ich würde gerne telefonieren!«

      »Dann tun Sie es doch!« Sie schaute mich neugierig an. Menschenkenntnis schien ihre Stärke nicht zu sein.

      »Ich habe kein Mobilfunknetz. Sonst hätte ich diese Frage ihnen gar nicht gestellt.« Die Dame war wohl begriffsstutzig. »Es ist wichtig!«

      »Wenn es dringend ist, kann ich Ihnen auch mein Gerät leihen.« Sie zog einen Stöpsel aus ihrem Ohr und reichte das Ding durch das Sprechfenster. Ich warf einen Blick darauf. Ohrenschmalz klebte daran. Was sollte das? »Bitteschön, Sie wollten doch telefonieren? - Benutzen Sie es ruhig.«

      Ich nahm den Gegenstand in Augenschein. Es entsprach dem Gummiteil eines In-Ohr-Kopfhörers. Wenn dies ein Scherz sein sollte, dann verstand ich ihn nicht. Hatten sich hier alle abgesprochen und gegen mich verschworen? War das hier die versteckte Kamera? Ich sah mein Gegenüber erneut an. Da fiel mir ein Fotokalender im Hintergrund auf. Februar 2050 stand dort. Diese Pharmaproduzenten verschenkten jährlich solche Kalender, die ihnen wiederum von Marketingfirmen aufgeschwatzt wurden. Die so reichlich mit Druckfehlern gespickt waren wie das Diktat eines Erstklässlers.

      »Nein, Danke! Aber wenn ich mir eine Bemerkung erlauben darf: dieser Kalender stimmt nicht.«

      »Meinen Sie?« Nachdem sie diesen kurz betrachtet hatte, nickte sie und drehte ein paar Blätter weiter. »Um den schert sich keiner. Er hängt dort nur dort wegen der Bilder.«

      Ich betrachtete nun das Foto von Neuschwanstein. Den Kalender hatte sie geändert auf Mai. Doch stand darauf immer noch das Jahr 2050. Die Dame nahm das Gummiteil vom Tresen und steckte ihn in ihr Ohr.

      »Ich meinte den Druckfehler!«

      »Welchen Druckfehler?«

      »Das Jahr!« Sie war wohl schwer von Begriff. Warum fiel ihr das nicht auf?

      »Ich verstehe nicht, was Sie meinen.« Erneut wandte sie ihren Blick zum Kalender und betrachtete ihn länger. »Also. Der Mai hat 31 Tage. An den Wochentagen kann ich keinen Fehler erkennen. Mir ist nicht bekannt, dass der Mai 2050 irgendwie anders sein sollte.« Sie zuckte mit den Schultern.

      »Das Jahr! Genau das meine ich. Ist es vielleicht ein Fehldruck aus dem Jahr 2015? Oder sogar von 2005?«

      »Ach so, Sie meinten das Jahr.« Sie lachte auf. »Aber das stimmt, 2050! Warum sollte hier ein uralter Kalender hängen? … was ist mit Ihnen? Geht es Ihnen nicht gut?«

      Ich hatte mich soeben am Empfangstresen festgeklammert, da mir einen Augenblick lang schwindelig