Das was man Leben nennt. Lara Licollin. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Lara Licollin
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738035919
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zur Decke.

      „Was?“, fragt Ben und ich fahre mir durch die Haare, bevor ich ihm antworte.

      „Ich habe keine Schlüssel mitgenommen.“

      4

      Ich spüre so etwas wie Erleichterung, doch trotzdem schlage ich ihr wenige Minuten vor, mit mir zur Polizei zu gehen, damit sie die Tür für sie öffnen.

      Es ist der wohl bescheuertste Vorschlag überhaupt, denn schließlich darf ich sie gar nicht gehen lassen nach dem, was gestern passiert ist.

      Ich bin so dumm!

      Das begreife ich aber erst zehn Sekunden danach.

      „Das würden die doch nie tun“, meint Zoe auf mein Angebot hin. „Wie kann ich beweisen, dass ich dort wohne?“

      Ich sage nichts. Denn erstens weiß ich es auch nicht und zweitens darf sie nicht gehen. Sie soll diesen Vorschlag vergessen und glauben, dass die Polizei das wirklich nicht glauben würde.

      Nach einer Weile sehe ich sie an.

      „Du kannst hier bleiben. Ich zwinge dich auch nicht, zu einem Arzt zu gehen.“

      Das kann ich nämlich nicht, denke ich daraufhin. Ich kann Menschen zu nichts zwingen.

      Zoe schweigt und denkt tatsächlich nach.

      Vielleicht denkt sie darüber nach, wie sie es schafft, die Polizei zu überzeugen, dass sie in ihre eigene Wohnung darf.

      Vielleicht denkt sie aber auch tatsächlich darüber nach, wie es wäre, zu bleiben.

      „Wenigstens für ein paar Tage. Vielleicht fällt uns dann ein, wie es weitergehen soll.“

      Sie sieht mich immer noch nicht an, als sie antwortet.

      „Ich bin nur eine Belastung für dich.“

      Schon wieder diese Behauptung.

      „Nein, gar nicht“, beharre ich. „Wirklich nicht. Ich war noch nie so froh, jemanden bei mir zu haben.“

      Jetzt sieht sie mich an. Erstaunt, aber auch irgendwie fragend. Jedoch keinesfalls so, als ob sie mich für einen seltsamen Typen hält, der gerne junge Frauen bei sich zu Hause hat.

      „Warum?“, fragt sie. „Hast du keine Freunde? Keine … Frau?“

      Ich sehe zur Seite und schüttle dann den Kopf.

      „Ehrlich?“, fragt sie, mir plötzlich wieder voll zugewandt.

      „Ja“, sage ich.

      „Aber ... du hast doch gesagt, du bist schon …“

      „39, ich weiß. Aber muss das gleich bedeuten, dass ich verheiratet bin und vielleicht sogar Kinder habe?“, frage ich sie und sie stutzt, schüttelt den Kopf und meint leise: „Nein.“

      Dann herrscht für einen Moment schweigen und ich sehe auf den Tisch vor uns.

      Warum geht immer jeder davon aus, dass man ab spätestens 30 verheiratet ist?

      „Außerdem“, sage ich nun, „hast du hier irgendwo Hinweise darauf gefunden, dass hier eine Frau wohnt?“

      Sie sieht sich eine Weile um und schüttelt dann den Kopf.

      „Hätte ja aber sein können, dass ihr eine Fernbeziehung führt oder so.“

      Ich muss lächeln, sehe sie an und sage wieder: „Nein, ich habe keine Frau.“

      Da nickt sie langsam, presst die Lippen aufeinander und sieht geradeaus.

      „Ich habe auch keinen Freund.“

      Jetzt sehe ich sie erstaunt an.

      „Wirklich?“

      Sie nickt, sieht mich aber nicht an.

      „Ich hätte gedacht, dass …“

      „Dass jeder über 17 auf jeden Fall einen Freund haben muss?“

      Sie schaut zu mir und lächelt. „Nein.“ Sie schüttelt den Kopf und irgendwie sieht ihr Lächeln traurig aus.

      „So ist das nicht.“

      Wieder schweigen wir eine Zeit lang und ich weiß nicht, über was wir weiter sprechen sollen.

      Natürlich würde ich gerne viel mehr über sie erfahren, bestimmt würde sich am Ende herausstellen, dass ich auch nur Vorurteile habe.

      Wenn ich sie nämlich so ansehe, dann kommt sie mir nämlich trotz des dreckigen weißen T-Shirts wie jemand vor, der ziemlich viele Freunde haben muss und – so dachte ich bis eben zumindest – einen Freund. Und sie kommt mir so vor, als wäre sie zielstrebig.

      Doch obwohl sie noch gar nicht so lange hier ist, fällt mir auf, dass sie leichte Stimmungsschwankungen hat. Ich weiß nicht, ob sie das auf der Brücke nun ernst gemeint hat (zu dem Zeitpunkt sah es für mich ziemlich ernst aus) oder nicht. Schließlich lächelt sie ziemlich oft und bei Menschen, die vorhatten – oder vorhaben – sich umzubringen, kommt das doch eigentlich nicht so oft vor, oder? Oder tun sie nur so?

      Um andere – vielleicht auch sich selbst – davon zu überzeugen, dass es Gründe gibt, zu leben?

      Plötzlich steht sie auf und geht zu meinem Bücherregal.

      „Du liest gerne, oder?“

      Ich drehe mich nach links, um sie sehen zu können.

      „Im Moment eher weniger, ich habe leider nicht mehr so viel Zeit.“

      Sie mustert das Regal von oben bis unten und nimmt schließlich ein Buch heraus.

      „Das Leben und die moderne Technik“, liest sie vor. „Ein Ratgeber für alle, die nicht mehr loskommen.“

      Sie sieht mich mit hochgezogenen Augenbrauen grinsend an.

      „Warum?“

      Ich muss ebenfalls grinsen.

      „Als ich vor etwa zwanzig Jahren den Wunsch hatte, Computertechniker zu werden, da habe ich mir gedacht, so ein Ratgeber kann doch ganz nützlich sein.“

      „Und, war er nützlich?“, fragt sie und sieht mich immer noch an.

      „Na ja, wie soll man von Computern und Technik loskommen, wenn man fast jeden einzelnen Tag damit zu tun hat?“

      Sie lacht und stellt das Buch wieder zurück.

      „Da sind ja noch mehr zu dem Thema“, stellt sie daraufhin fest.

      Ich nicke. „Ja, ich dachte, ich hole mir mal mehrere Meinungen ein.“

      Wieder kichert sie und kniet sich schließlich hin.

      „Der Traum vom eigenen Garten“, liest sie vor. „Ein Ratgeber.“

      Sie sieht von unten zu mir auf. „Du willst also einen eigenen Garten?“

      „Damals schon. Heute denke ich, dass das viel zu viel Arbeit wäre, den ständig zu gießen und zu mähen. Wobei … es wäre schon schön, aber ich habe keine Zeit.“

      Sie nickt langsam und erhebt sich schließlich.

      „Ich habe deinen Balkon noch gar nicht begutachtet.“

      Sie geht am Tisch vorbei, zum großen Fenster und schiebt den Vorhang zur Seite.

      Dann öffnet sie die Tür und tritt nach draußen. Ich folge ihr.

      Der Balkon ist nicht gerade der größte, er misst ca. zwei Meter mal vier Meter, aber es reicht aus, um sich im Sommer sonntags einmal nach draußen zu setzen.

      „Schöner Ausblick“, sagt Zoe und lehnt sich ans Geländer.

      Unwillkürlich muss ich dabei an gestern Abend denken.

      Gestern