Das was man Leben nennt. Lara Licollin. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Lara Licollin
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738035919
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gar nicht?“

      Er schüttelt den Kopf. „Ich habe es nie für nötig gehalten“, sagt er. „Was soll ich hier, in dieser leeren Wohnung? Allein.“

      Ich zucke mit den Schultern. „Verreisen. Du hast doch bestimmt viel Geld, oder? Du bist Ingenieur und so wie ich das mitbekommen habe, arbeitest du fast jeden Tag. Von morgens bis abends. Also warum hast du nicht mal ein bisschen Spaß?“, frage ich ihn. „Warum lernst du nicht mal ein paar nette Leute kennen? Oder eine Frau.“

      Er sieht zur Seite und schweigt so lange, dass ich schon wieder kurz davor bin, einfach aufzustehen und zu gehen.

      Doch dann sieht er wieder auf und blickt mich an.

      „Du hast ja recht. Es hört sich fast so an, als würde mein Leben nur aus meiner Arbeit bestehen.“

      „Das tut es.“

      Er lacht.

      „Ja … Ja, das stimmt schon, aber … kennst du nicht dieses Gefühl, wenn man abends nach Hause fährt, man ist kurz davor seine alte, leere, stille Wohnung zu betreten und man weiß, dass dort niemand auf einen wartet?“

      Er sieht mir in die Augen und ich nicke.

      „Das kenne ich“, sage ich leise und räuspere mich. Dann sage ich lauter: „Das kenne ich sehr gut.“

      Er nickt ebenfalls und sieht wieder geradeaus.

      Wieder schweigt er, aber dieses Mal plane ich nicht, einfach aufzustehen und zu gehen. Irgendwie kann ich nicht. Noch nicht.

      Es ist schön, mit ihm zu reden.

      „Wenn du …“, sagt er plötzlich, bricht dann aber ab.

      „Was?“

      „Egal.“

      „Nein, sag.“

      „Ich hab nur gedacht … Wenn du dasselbe Gefühl hast, jeden Abend, warum bleibst du dann nicht?“

      Er sieht mir wieder in die Augen und ich schlucke. Schnell sehe ich zur Seite.

      „Du bist … Du könntest mein Vater sein und …“

      „Willst du denn keinen Vater?“ Er schluckt. „Tut mir leid, das wollte ich nicht sagen. Du hast ja sicher einen Vater, aber ich meinte …“

      „Schon okay. Ja, ich habe einen Vater … na ja, zumindest hatte ich einen.“

      Immer noch sieht er mich von der Seite an.

      „Was ist passiert?“

      Meine Lippen zittern, als ich es ihm erzählen will, ich weiß nicht, warum.

      Er ist schon längere Zeit nicht mehr am Leben, und auch davor habe ich nicht oft mit ihm gesprochen.

      „Er ist tot“, sage ich dann extra laut, sodass er meine Gefühle nicht errät. Dabei weiß ich selbst nicht mal, was ich fühle.

      „Das tut mir leid“, sagt Ben sanft und ich zucke wieder mit den Schultern.

      „Ist schon etwas länger her.“ Nicht einmal fünf Jahre. „Und außerdem war er sowieso kein guter Vater.“

      „Und was ist mit deiner Mutter?“, hakt er sofort nach.

      Ich zucke mit den Schultern.

      „Keine Ahnung.“

      „Also lebt sie noch?“, fragt er weiter.

      „Ja, aber in ihrer Welt.“

      Er sieht mich fragend an und ich erkläre es ihm seufzend: „Sie ist Alkoholikerin, seit mein Vater tot ist.“

      „Oh“, sagt Ben und sieht geradeaus. „Das tut mir leid.“ Mehr sagt er nicht und eine Weile herrscht Schweigen, bis ich die Stille breche.

      „Ist ja auch egal“, sage ich entschlossen und erhebe mich. „Ich muss jetzt los.“

      „Zoe“, sagt Ben und erhebt sich ebenfalls. „Ich dachte, du hättest es dir überlegt.“

      Er sieht mich mit großen Augen an und ich erkenne darin eine Bitte, zu bleiben.

      „Bitte denk doch an die ganzen Abende, an denen du allein zu Hause saßt. Und jetzt erinnere dich an gestern. Es war doch schön, zu zweit, oder?“

      Ich sehe auf den Boden und antworte nicht.

      Denn natürlich hat er recht. Er hat bei allem recht.

      „Zoe“, sagt er wieder eindringlich und gleichzeitig flehend. „Bitte bleib doch. Wenigstens noch ein paar Tage. Morgen ist Freitag und dann ist Wochenende und dann kannst du dich immer noch entscheiden.“

      Langsam sehe ich auf.

      Und frage mich plötzlich.

      Warum.

      Warum nicht?

      Was spricht dagegen, noch ein paar Tage zu bleiben?

      Klar, das Argument, dass er sich um mich kümmern muss. Dass ich eine Belastung für ihn bin.

      Und dass er mein Vater sein könnte.

      Aber wenn nun Wochenende ist, dann muss er auch nicht arbeiten. Dann ist er sowieso zu Hause.

      Also was soll’s?

      Zwei Tage.

      Ich treffe eine Entscheidung.

      Ich werde schließlich nicht für immer bei ihm leben und die Entscheidung, noch ein paar Nächte hier zu übernachten, bedeutet auch nicht gleich, dass ich ihn danach heiraten muss oder so.

      Es bedeutet einfach nur, dass er sich Sorgen um mich macht und dass er mir gerne Gesellschaft leisten würde. Mehr nicht.

      „Okay“, sage ich deshalb. „Von mir aus bleibe ich noch eine Weile.“

      6

      „Alles klar. Du bist entschuldigt. Sie haben echt geglaubt, dass ich dein Vater bin.“

      Nachdem ich noch einmal in meiner Firma anrief, um mich auch für heute zu entschuldigen, habe ich sofort nach der Nummer von Zoes Hochschule gesucht. Schließlich muss auch sie entschuldigt werden.

      Mit dem Telefon in der Hand kehre ich nun ins Wohnzimmer zurück.

      Zoe sitzt wie immer auf der Couch, trägt noch immer ihr weißes T-Shirt und ihre Hose und meine Socken, die ihr viel zu groß sind.

      „Na ja, so jung bist und klingst du auch nicht mehr.“

      Während sie das sagt, bleibt ihr Gesichtsausdruck völlig neutral, aber ich bemerke um ihre Mundwinkel herum ein leichtes Zucken. Doch ich reagiere nicht darauf.

      „Ach wirklich?“, sage ich und tue etwas beleidigt. „Und du bist auch kein Kind mehr – obwohl ich zugeben muss, dass du so aussiehst.“ Jetzt zuckt es immer mehr und sie kann es kaum unterdrücken. „Du hättest also auch selbst anrufen können, um dich zu entschuldigen.“

      Ich stemme die Arme in die Hüften und sehe sie mit hochgezogenen Augenbrauen an.

      Daraufhin kann sie ihr Lachen nicht mehr zurückhalten und vergräbt ihr Gesicht in den Händen.

      Ich setze mich grinsend neben sie.

      „Was hast du ihnen gesagt?“

      „Dass du krank bist.“

      „Und was hab ich deiner Meinung nach?“ Sie lehnt sich näher zu mir und grinst.

      „Eine ziemlich starke Erkältung. Ich habe gesagt, dass du wahrscheinlich bis Mitte nächste Woche nicht kommen kannst.“

      Erneut grinst sie und bedankt sich und wieder frage ich mich, warum sie überhaupt noch lachen kann, wenn sie doch gleichzeitig Gründe dafür hat, ihr Leben zu beenden.

      Bisher