Herr Heider eilte ans Kopfende des Bettes und sah die beiden an. Er blickte in Steinbergs Augen, und man konnte erkennen, dass er, genauso wie der alte Mann, große Mühe hatte, sich der Gefühle zu erwehren, die beide ganz offensichtlich in diesem Moment empfanden.
Nur Stefan stand da und brachte keinen Ton heraus. Weder kannte er den alten Mann, noch wusste er, warum er überhaupt bei ihm war.
Der Alte hielt seine Hand immer noch fest, als ob er einen guten Bekannten oder ein lang vermisstes Familienmitglied nach vielen Jahren endlich wiedergefunden hätte.
Doch wer war er?
Warum brachte er einem Fremden dieses tiefe Gefühl entgegen. Weder der Name Steinberg noch dieses Gesicht war Stefan je zuvor in seinem Leben begegnet.
Erst jetzt konnte Stefan feststellen, dass Herr Heider, der ihn zunächst an einen Holzfäller oder Gewichtheber erinnerte, in Wahrheit ein sehr warmherziger und gefühlsbetonter Mensch war. Heider richtete erneut seinen Blick auf Steinberg und sagte so leise und fürsorglich er es vermochte:
„Heinz, du solltest jetzt schlafen. Ich bin mir sicher, dass ihr beide euch bestimmt bald wiedersehen werdet. Du weißt, was der Arzt gesagt hat: Nicht alles auf einmal erwarten.“
Er drehte sich zum Nachttisch neben dem Bett um und legte ein paar Tabletten, die er einem Rosenholzkästchen entnahm, zurecht. Dann füllte er ein Glas am Waschbecken hinter Stefan mit Wasser und verabreichte Steinberg, dessen Kopf er behutsam mit einer Hand unterstützte, seine Medizin.
Noch immer fühlte Stefan die alten knochigen Hände, die während der ganzen Zeit die seine festhielten.
„Versprechen Sie mir, dass Sie mich so bald wie möglich wieder besuchen. Wir haben so viel zu bereden“, flüsterte er mit heiserer Stimme. Die Bewegungen seiner Lippen waren kaum wahrnehmbar.
Stefan versprach es, ohne zu wissen warum eigentlich. Erst dann ließ der Alte seine Hand wieder los und schloss die Augen.
Bernd Heider deutete Stefan das Zimmer zu verlassen, was dieser auch sofort dankbar tat. Allerdings verließ er nicht nur das Zimmer, sondern auch das Gebäude, um sich draußen im Freien eine Zigarette anzuzünden. Diesen unerwarteten Anblick galt es erst einmal zu verdauen.
Seine Blicke wanderten draußen durch die warme Spätsommerluft hinüber zu alten Leuten und hastig vorbeieilenden Menschen, die offensichtlich zum Personal gehörten. Einige der Jüngeren waren wahrscheinlich Besucher oder Verwandte der Bewohner. Nur die wenigsten trugen Krankenhauskleidung, weshalb es unmöglich erschien, Besucher und Pflegepersonal voneinander zu trennen.
Während er die Szene beobachtete, kam auch Herr Heider wieder aus dem Gebäude und gesellte sich zu ihm.
„Er schläft jetzt“, sagte er genauso leise, als ob sie sich immer noch am Krankenbett befänden.
„Würden Sie mir bitte erklären, was das Ganze hier zu bedeuten hat?“, bat ihn Stefan, wobei er ebenfalls sehr leise sprach.
„Kommen Sie bitte mit in die Cafeteria. Dort werde ich, soweit wie ich es vermag, versuchen Ihnen zu erklären, warum Sie hier sind.“
Wissbegierig folgte Stefan dem Riesen über die durch Steinplatten gekennzeichneten Wege. Immer noch vorbei an mehr oder weniger glücklich wirkenden alten Menschen, die, wie er vermutete, hier den Rest ihres Lebens verbringen würden.
Nach ungefähr 200 Metern des Weges, der sich durch einen herrlichen Garten schlängelte, erreichten die beiden ein weiteres Gebäude, in dem sich die Cafeteria befand. Sie sah von außen aus wie ein Sommerpavillon. Achteckig, vollständig aus Holz gefertigt, inmitten einer Idylle, die Stefan vergessen ließ, dass er sich immer noch in Berlin befand. Das Dach war mit ihm unbekannten schwarzen Steinplatten bedeckt, die in der Mittagsonne in den verschiedensten Farben schimmerten. Neben den Stufen, die zum Eingang führten, entdeckte er eine flach ansteigende Betonfläche, die auch den vielen Rollstuhlfahrern, die hier lebten, die Benutzung der Einrichtung ermöglichte, und von denen vor jedem Gebäude eine zu finden war.
Er erwartete einen dieser karg eingerichteten Räume, wie sie im Allgemeinen in Krankenhäusern vorzufinden waren. Eine Art Fließbandkantine, in der ein genervtes Personal unwirsch seiner Arbeit nachging. Doch auch diesmal sollte er sich irren. Völlig überrascht betrat er hinter Herrn Heider einen stilvoll eingerichteten Gastraum, den man in Art und Ausstattung viel eher in einer Ferienanlage oder einem dieser vielen Ferienclubs in Südeuropa vermutet hätte. Schlagworte wie „Urlaub unter Freunden“, mit denen diese Orte allgemein warben, kamen ihm in den Sinn. Sein Blick fiel neben dem für eine Cafeteria weit ausladenden Tresenbereich sofort auf die großzügige Terrasse mit ihren vielen Sonnenschirmen. Keiner der Schirme trug einen Werbeaufdruck, sondern alle waren aus buntem bedrucktem Tuch mit südländischem Motiv bespannt. Obwohl der Herbst noch nicht sehr weit vorangeschritten war, zierten bunt schillernde Ahornblätter den mit Mosaiksteinen verzierten Fußboden im Freien. Hier gab es keine einfachen weißen Tische und Kunststoffstühle, wie man sie selbst in teuren Ausflugslokalen heutzutage antraf. Zum Ambiente passende Teakholzstühle mit farbenfrohen Kissen und breiten Armlehnen forderten zum Verweilen auf. Nichts konnte daran erinnern, dass es sich um die moderne Form eines Altenwohnheims handelte.
Heider suchte einen Tisch etwas abseits des lebhaften Geschehens aus und forderte seinen Gast auf, Platz zu nehmen. Höflich fragte er, was er ihm zu trinken besorgen könne, und Stefan entschied sich in Anbetracht der Uhrzeit für einen Kaffee, obwohl er in diesem Moment auch einen kräftigen Cognac vertragen hätte. Dann zog Heider mit dem freundlichen Gesichtsausdruck eines Kellners, der sich ein großzügiges Trinkgeld erhoffte, los und verschwand im Gastraum, durch den sie gerade gekommen waren.
Neben den vielen alten Leuten, die dort verweilten, fiel Stefans Blick auf den einzigen Menschen, der optisch wohl am ehesten in diese künstlich erschaffene südländische Oase passte. Er saß am Nebentisch, schaute mit leerem Blick in eine Zeitung und war Stefan bereits beim Reinkommen aufgefallen, weil er sich anscheinend mehr für die anderen Gäste als für seine Lektüre interessierte. Circa 40 Jahre alt, schwarzes lockiges Haar und braun gebrannte Haut. Die kurzen Ärmel spannten sich straff über muskelbepackte Oberarme, wie Stefan sie zuvor nur einmal am Strand von Miami Beach beobachtet hatte. Nur dass der Kerl damals einen unappetitlichen Stringtanga getragen hatte, während der Mann am Nebentisch eine ordentliche Bundfaltenhose sowie ein modisches weißes Poloshirt sein Eigen nannte. Stefans neugierige Blicke erwiderte dieser, wie man annehmen könnte, südeuropäische Krankenpfleger mit einem stummen Kopfnicken, was wie eine Begrüßung wirkte. Gleichzeitig schien ihm dieser kurze Blickkontakt jedoch unangenehm zu sein. Sofort widmete er sich wieder seiner Zeitung, und auch Stefan wandte sich von ihm ab, um die gesamte Exklusivität der Restauration zu erfassen.
Während er seit ein paar Sekunden einer Rommé spielenden Seniorengruppe zusah, nahm er auch schon den Duft von frischem Kaffee wahr. Herr Heider stellte zwei große französische Kaffeetassen sowie ein Sahnekännchen und eine Zuckerdose auf den Tisch und lächelte Stefan breit an.
Er erkannte, dass dieser von dem, was er hier zu sehen bekam, immer noch völlig irritiert war.
Voller Stolz erzählte Heider von noch drei weiteren Restaurants, die sich ebenfalls auf dem Gelände befänden. Das erste existiere nahe dem Haupthaus und fühle sich der deutschen Küche verpflichtet. Es habe alles zwischen Aal und Zwiebelrostbraten auf der Speisekarte.
Obwohl der Letztere nach Stefans Wissen ursprünglich aus Österreich stammte, benutzte Heider diese Formulierung, die er offensichtlich dem abendlichen Werbefernsehen entnommen hatte. Entgegen seinem Naturell verzichtete Stefan darauf, ihn auf diesen Fauxpas hinzuweisen. Stefan glaubte zwar zu wissen, dass der Zwiebelrostbraten aus Österreich stammt, verzichtete aber darauf, Heider auf seinen Irrtum hinzuweisen.
Ein weiteres Restaurant habe sich den Liebhabern der italienischen Kost verschrieben und befände sich weiter hinten auf dem Grundstück, welches eine Gesamtgröße von 14.000 Quadratmetern umfasse. Zu guter Letzt gäbe es noch ein sogenanntes internationales Restaurant, in dem die Speisekarte täglich zwischen verschiedenen