Am nächsten Morgen trat Marcius auf die beiden zu: „Ich habe mit den Sklaven hier gesprochen. Sie alle sagen, daß die kommende Wegstrecke über den Kamm des Gebirges führt, daß der Pfad oft nur sehr schmal ist und an Abgründen entlang führt. Es wird also eine beschwerliche und auch gefährliche Wanderung sein. Das sagt auch der Wirt, und er hat mir angeboten, uns für dich, Schwester Junia, ein Maultier mit einem erfahrenen Führer für diesen Tag zu vermieten. Er könnte dann morgen zurückkehren, wenn wir die Höhe überwunden haben. Ich weiß, liebe Junia, es widerstrebt dir, besondere Rechte in Anspruch zu nehmen, aber ich bitte dich, dieses Angebot nicht auszuschlagen.“
Junia zögerte, er hatte recht: Sie wollte sich nicht von den anderen unterscheiden. Aber sie wusste auch, daß ihr ein schmaler Weg entlang von steil abfallenden Felswänden Schwindel bereiten würde. Durfte sie sich allein aus Stolz in Gefahr bringen? Sie blickte Androklus fragend an. „Du solltest das Angebot annehmen, Junia,“ sagte dieser, und als hätte er ihre Gedanken erraten, fügte er leise hinzu: „Wir sollten den Herrn nicht versuchen.“ Da willigte sie ein, und Marcius eilte fort, um die Angelegenheit mit dem Wirt zu regeln. „Aber ich werde erst aufsteigen, wenn die Vernunft es verlangt,“ sagte sie mit fester Stimme. „Solange mag das Tier all das tragen, was uns jetzt noch belastet.“
Nach etwa zwei Stunden hatten sie die Höhe des Gebirges erreicht, und nun sahen alle drei, daß die Warnungen berechtigt waren. Selbst die Tiere gingen jetzt langsam und achtsam, setzten die Hufe vorsichtig auf und drängten sich an die Felswand, wenn der Pfad schmal wurde und seitlich die Tiefe gähnte. Junia ritt nun auf ihrem Maultier, manchmal klammerte sie sich an dessen Mähne fest, vor allem aber vermied sie es, in den Abgrund zu blicken. Aber das Reittier war diesen Weg gewöhnt, und der Führer ging mit festem Schritt voraus. Dennoch sandte Junia ein stilles Dankgebet zum Himmel, als der Weg sich wieder weitete und eine Senke zwischen zwei Höhen durchquerte. Der Führer wandte sich um und lachte freundlich: „Wir haben den Paß erreicht, jetzt geht es bequemer abwärts.“
Junia schaute nach Androklus. Er war die ganze Zeit dicht hinter ihr gewesen, sie hatte seinen schwer gehenden Atem gehört. Und sie erblickte auch die Schweißtropfen, die von seiner Stirn herabperlten. Aber er lächelte ihr zu, und sie lächelte zurück. Der schlimmste Teil des Weges lag jetzt offensichtlich hinter ihnen. Schon wollte sie absteigen und das Tier mit seinem Führer zurückschicken, doch Marcius mahnte: „Schone deine Kräfte, Junia, es wird noch Tage dauern, bis wir Melitene erreichen. Du kannst deine Füße noch genug gebrauchen.“ Und er sollte recht behalten. Nun quälten sie nicht so sehr die Gefahren des Weges, sondern die Sonne, die immer mehr Kraft gewann, ohne daß Felswände oder gar Bäume Schatten spendeten.
7
Junia blieb überrascht stehen, fast hätte sie einen kleinen Schrei ausgestoßen: Zu ihren Füßen erstreckte sich ein weites Feld, übersäht mit weißen Margeriten. Nun lag das Gebirge endgültig hinter ihnen, und vor ihnen die Ebene von Melitene. „Schaut nur,“ sagte sie bewegt zu ihren beiden Begleitern, „der Herr hat uns einen kostbaren Teppich zum Empfang ausgebreitet. Ist er nicht wunderschön? Laßt ihn uns zum Zeichen nehmen, daß wir und unsere Botschaft hier willkommen sind.“ Androklus war hinter sie getreten und hatte ihr die Rechte auf die Schulter gelegt: „Ja, Junia, es ist ein prächtigen Anblick, nach all den Felsen und dem Schnee dort oben vom Frühling begrüßt zu werden. Wie wird es erst sein, wenn unser Herr wiederkommt und diese Welt verwandelt in den Garten Gottes, den wir einst verloren haben!“
Auch die Händler und ihre Maultiertreiber und Diener waren stehengeblieben. Wie oft waren sie diesen Weg schon gezogen, doch stets war dies ein besonderer Augenblick auf ihren Reisen. Dann aber hieß es, sich zu beeilen, um noch vor Sonnenuntergang die Stadt zu erreichen. Auch die drei Antiochener nahmen zunächst einmal Quartier in der Herberge, und Marcius erkundete dort, ob und wo es eine Synagoge oder eine Versammlungsstätte von Juden in der Stadt gäbe. Bald kam er mit der Auskunft zurück, Miletene hätte eine durchaus zahlreiche Judenschaft mit einer eigenen Synagoge. Es seien überwiegend griechisch sprechende Männer, meist Handwerker im Basar und durchaus auch angesehen unter den anderen Bewohnern. Sonst gäbe es die üblichen Tempel; vor allem die Soldaten aus dem Legionslager würden den Jupiter Dolichenus verehren, der aber eigentlich der syrische Baal wäre.
In zwei Tagen würde der Sabbat sein, so beschlossen die drei, dann die jüdische Feier aufzusuchen. Auch Barnabas und Paulus hätten auf diese Weise ihre Mission begonnen. Während Androklus und Marcius sich in den Versammlungssaal begaben, stieg Junia die Treppe zur Frauenempore hinauf. Kein Vorhang trennte diesen Raum vom Saal dort unten, alle hatten freie Sicht auf das Geschehen vor dem Thoraschrein. Junia war erstaunt über die große Zahl der Frauen, ein paar vorsichtige Fragen ergaben, daß viele von ihnen zu den Legionären gehörten. Den Soldaten war zwar die Heirat während ihrer Dienstzeit untersagt, doch die meisten hatten durchaus Frauen und auch Kinder, und da Teile der Legion nun schon vor einigen Jahren aus Syrien hierher verlegt waren, lebten auch die Familien in der Nähe des Castrums. Und es waren oft jüdische Frauen, oder doch solche, die dem jüdischen Glauben nahestanden, die es nach Miletene verschlagen hatte.
Wie es in den meisten Gemeinden Sitte war, wurde es Gästen eingeräumt, eine der Lesungen zu übernehmen und dazu auch etwas zu sagen. So hatte Androklus Gelegenheit, sich vorzustellen. Dabei betonte er seine Herkunft aus Jerusalem, was allgemeine Aufmerksamkeit erregte. Nur mit wenigen Sätzen deutete er an, daß dort Wichtiges geschehen sei, was die Hoffnung des Volkes auf den verheißenen Retter betraf. Den Namen des Jesus von Nazareth und seine Kreuzigung erwähnte er jedoch noch nicht - römische Soldaten kannten die Verbrechen, die mit dem Tod am Kreuz geahndet wurden, und hier in Miletene dann sicher auch die anderen Bewohner. Jedenfalls bat man ihn, doch später Näheres zu berichten, und Androklus versprach es.
Zurück in der Herberge, beratschlagten die drei, wie sie nun weiter verfahren sollten. „Es könnte viel Zeit vergehen, ehe wir eine Gemeinde gründen können und auch jemand finden, der sie beherbergt,“ meinte Androklus. „Wir sollten unser Geld dafür nutzen, ein Haus mit einem Saal zu mieten, in den wir alle einladen könnten, die für die Botschaft aufgeschlossen sind.“ Junia stimmte zu: „Es wird kaum möglich sein, daß ich in der Synagoge zu den Frauen oder gar den Männern reden kann,“ meinte sie nachdenklich, „da wäre ein anderer Ort sicher besser geeignet. Und dort könnten wir auch das Mahl feiern. Ich vermisse es sehr, daß wir drei nun schon so viele Tage miteinander unterwegs sind und zwar miteinander gebetet haben, doch noch nie das Brot gebrochen und den Kelch geteilt haben.
So machte Marcius sich auf, nach einem passenden Haus zu suchen. Auch wenn hier in der Stadt alle griechisch sprachen, war es doch ein Vorteil, auch die Landessprache zu gebrauchen; das schuf Vertrauen gegenüber diesen Fremden aus dem fernen Antiochia. Nach einigen Tagen hatte er etwas passendes gefunden, und die drei konnten die Herberge verlassen und dort Wohnung nehmen.
Die nächsten Sabbatfeiern nutzte Androklus, langsam und behutsam mehr von dem Christus zu erzählen, den Gott zur Rettung nicht nur seines erwählten Volkes, sondern auch aller Gläubigen aus den anderen Völkern gesandt hatte. Viele hörten ihm aufmerksam zu, und nach vier Wochen schien ihm die Zeit reif, in sein Haus einzuladen, damit sie Näheres erfahren könnten. Es war durchaus eine große Zahl, die sich zur vereinbarten Stunde einfand. So konnte er die Botschaft ausführlicher entfalten und begründen, warum jener Jesus der verheißene Christus Gottes ist. Dann aber kam endlich Junias Stunde. Zu lange schon hatte sie schweigen müssen, nun war die Zeit gekommen zu reden:
„Liebe Freunde, Andronikus hat euch verkündet, daß Jesus der Christus ist, den Gott der Welt zur Rettung gesandt hat. Darum lasst mich euch von diesem Jesus erzählen, denn ich habe ihn gekannt, als Kind zwar, aber ich bin ihm begegnet und er hat mich gesegnet. Ja, er hat uns Kinder lieb gehabt und die Hände aufgelegt, denn Kinder, so hat er einmal gesagt, sind allen ein Vorbild, weil sie Vertrauen haben, weil sie noch keine große Taten der Frömmigkeit vorweisen