Junia nickte, dann antwortete sie mit einem Anflug von Ironie: „Wenn du mir schon deinen verschweigst, will ich dir doch meinen Namen nennen: Ja, ich bin getauft. Ich heiße Junia, und ich bin die Tochter des Chusa und der Johanna aus Magdala.“ Andronikus errötete ein wenig. „Entschuldige, ich war nur so froh, endlich wieder Brüder und Schwestern zu treffen. Ich bin Andronikus, und ich komme aus Jerusalem. Allerdings nicht von den Brüdern um Petrus und den Söhnen des Zebedäus geschickt, sondern in einer geschäftlichen Angelegenheit für meinen Patron. Aber ich werde wohl einige Zeit hier in Antiochia bleiben, und ich freue mich, die Geschwister wieder zu treffen, die damals Jerusalem verlassen mussten. Denn auch ich bin getauft – von Stephanus, der für den Herrn gestorben ist.“
„Ja“, sagte Junia, „wir haben davon gehört. Es war eine schreckliche Nachricht für uns alle. Ich war damals noch ein Kind, da hatte ich kaum begriffen, was mit ihm geschehen war. Aber ich bin ihm ein oder zweimal in Jerusalem begegnet, daran erinnere ich mich noch gut. Und du hast Stephanus näher gekannt?“ Der junge Mann nickte zustimmend: „Er hat mir die Augen geöffnet für den Glauben,“ sagte er. „Aber auch ich war noch sehr jung damals und habe vieles nicht verstanden. Doch hier bei euch werde ich sicher gute Lehrer finden.“ „Bruder Lucius ist einer von ihnen,“ gab Junia zurück, um dann die Hand zu heben: „Entschuldige, Bruder... Andronikus, nicht wahr? Wir schwatzen hier miteinander, und dabei sollte ich ihm endlich deine Ankunft mitteilen.“ Sie wandte sich um und lief aus dem Raum, während der junge Mann sich auf der Kline niederließ.
Einen Augenblick später brachte ein Sklave – oder auch ein Freigelassener – ein Tischchen mit einem Becher Wein und einer Schale mit Früchten. „Der Herr wird gleich zu dir kommen,“ sagte er. „Junia bittet dich, du mögest dich erst einmal stärken. Du wirst hungrig und durstig sein.“
5
Im ersten Quartier, zwischen dem Orontes und der schnurgeraden Hauptstraße, fand Andronikus in einer Insula eine erste Wohnung: ein offenes Ladengeschäft an der Gasse, das er als Büro zu nutzen gedachte, und darüber zwei Räume, in denen er eine Liege aufstellte und im anderen auch ein Tischchen und zwei Sessel. Die ersten Wochen vergingen damit, einige Geschäftsfreunde seines Patrons aufzusuchen, sich vorzustellen und über Getreidelieferungen zu verhandeln. Bald handelte er auch mit anderen Waren – Feigen und Datteln, Oliven und getrockneten Weintrauben. Sein Auftraggeber in Jerusalem konnte zufrieden sein, die Geschäfte warfen guten Gewinn ab, und eines Tages ließ er Andronikus einen Beutel mit Denaren überbringen, als Lohn und Auszeichnung für seinen Dienst. Der junge Mann aber verwahrte den Beutel gut, sein bescheidener Lebensunterhalt war auch so gesichert. Er hatte gehört, daß Barnabas, als er noch in Jerusalem weilte, einen ererbten Acker dort verkauft und das Geld den Gemeindeältesten übergeben hatte, damit sie die Witwen und Waisen versorgen konnten. Noch wusste Andronikus nicht, wofür er die Gabe seines Patrons geben sollte, aber daß sie dem Christus Jesus geweiht war, das stand für ihn fest.
Lucius hatte im vergangenen Jahr seine Tochter verheiratet, Junias Aufgabe in seinem Hause war also fortgefallen, auch war sie ja älter als die Tochter. Er fühlte sich ein wenig als Vater für die junge Frau, hatte Johanna doch von Chusa seit langem keinerlei Nachricht erhalten. So hielt er eines abends Junia auf, als sie sich in ihre Kammer zurückziehen wollte, und bat sie, an seiner Seite Platz zu nehmen. „Du bist seit langem nun schon in einem Alter, in dem die Väter ihren Töchtern einen Ehemann suchen,“ begann er. „Ich bin nicht dein Vater, Junia, aber ich fühle mich doch für dich verantwortlich. Sag mir also ehrlich: Hast du dich für die Ehelosigkeit entschieden, wie es viele Schwestern tun, weil wir die Wiederkunft des Herrn in Kürze erwarten, oder würdest du eher heiraten wollen. Dann will ich dir gerne zur Seite stehen und für dich bei einem der Brüder bitten.“
Junia schwieg lange. Seit ihre kleine Freundin aus dem Haus gegangen war, hatte sie über ihr eigenes Schicksal nachgedacht, ohne sich doch entschließen zu können. So blickte sie Lucius an und sagte: „Um ehrlich zu sein, Bruder Lucius, ich weiß es nicht. Nur dieses eine weiß ich: Ich will unserem Herrn mit all meinen Kräften dienen. Aber noch hat er mir keinen Fingerzeig gegeben, wie das geschehen kann.“ Wieder machte sie eine Pause, der Mann neben ihr ließ ihr die Zeit zum Nachdenken. Dann fragte sie ihn ganz direkt: „Du hast sicher schon einen der jüngeren Brüder im Auge, nicht wahr? Würdest du mir verraten, an wen du denkst?“
Lucius mußte lächeln: „Ich würde dir niemand empfehlen, meine Liebe, es sei denn, ich wüsste, du hättest schon eine Entscheidung getroffen. Aber ich beobachte doch seit vielen Tagen, daß dort einer ist, mit dem du gerne über unseren Glauben sprichst, zu dem du Vertrauen hast.“ Und als Junia ihn fragend ansah, fuhr er fort: „Es ist Bruder Andronikus. Du schätzt ihn, nicht wahr?“ „Und er, schätzt er mich auch?“ Lucius spürte, daß die junge Frau neben ihm so etwas wie Zuneigung empfand, also sagte er geradeheraus: „Wenn du es erlaubst, dann will ich ihn fragen.“
Junia griff nach seiner Hand: „Ich weiß nicht, ob ich zur Ehefrau und Mutter tauge, Lucius. Aber ich weiß, daß ich, so wie Bruder Barnabas und Paulus, die Botschaft unseres Herrn und Meisters weitersagen möchte. Aber kann eine Frau das alleine tun, kann sie reisen, in die Synagogen gehen, kann sie in den Häusern das Evangelium verkünden? Du wirst mit Recht sagen: Nein, das kann sie nicht. Sie wäre ständig Gefahren ausgesetzt, die Männer würden kaum auf sie hören, die Behörden würden ihr das Wort verbieten. Um das zu tun, was Paulus und Barnabas tun, was Stephanus einst getan hat, muß man ein Mann sein, oder...“ sie sah dem anderen nun geradewegs in die Augen, „..oder doch wenigstens gemeinsam mit einem Ehemann unterwegs sein. Sag, Bruder Lucius, was denkst du: Wäre Andronikus bereit, mich unter diesen Voraussetzungen zu heiraten, sich mit mir zusammen von der Gemeinde aussenden zu lassen?“
„Es ist der Geist des Herrn, der uns ruft,“ sagte Lucius leise. „Wir wollen um seinen Geist bitten. Und wenn auch Andronikus sich gerufen weiß, dann wird der Herr uns ein Zeichen geben.“ Es sollte nicht viel Zeit vergehen, da glaubte Lucius fest, dieses Zeichen sei geschehen. Die Gemeinde hatte Besuch erhalten, drei Männer aus Jerusalem waren in Antiochia eingetroffen und hatten Grüße von dort überbracht. Sie erzählten, daß Petrus nun viel in Judäa und Samaria herumzog, die kleinen Gemeinden dort besuchte und viel dazu beitrug durch sein Zeugnis, daß sie weiter wuchsen. Die Gemeinde in Jerusalem wurde jetzt vom Bruder des Herrn, Jakobus, geleitet. Er werde auch bei den Pharisäern dort geschätzt wegen seiner Frömmigkeit und weil er die vielen Gebote der Thora mit großem Eifer befolge.
Als sich die Geschwister nun mit den Gästen am Tag nach dem Sabbat, dem ersten Wochentag nach jüdischer Zählung, zum gemeinsamen Mahl versammeln wollten, um des Herrn zu gedenken und das Brot miteinander zu brechen, erhoben die Jerusalemer plötzlich Einspruch: „Es sind viele unter euch, die unbeschnitten sind,“ sagte einer. „Wißt ihr nicht, daß es uns Juden verboten ist, gemeinsam mit ihnen zu essen?“ „Aber sie sind getauft,“ antwortete Lucius, „sind sie dann nicht unsere Brüder, so wie ihr?“ „Das wollen wir nicht bestreiten,“ sagte der Gast, „mögen sie das Mahl des Herrn feiern. Doch wer aus Israel kommt, der ist gebunden an die guten Gesetze unseres Gottes, sie zu übertreten wäre eine Sünde.“
Da erhob sich plötzlich Junia und bat, etwas sagen zu dürfen. Die Anwesenden schauten erstaunt, selten geschah es, daß eine der Schwestern sprach während der Versammlungen. Jetzt aber, wo Entscheidendes anstand, sollte eine Frau das Wort ergreifen? Lucius aber hob die Hand, das leise Gemurmel erstarb. „Wenn unsere Schwester Junia etwas zu sagen hat, wenn der Geist des Herrn sie dazu treibt, dann wollen wir sie hören.“ Da wusste Junia, jetzt ist die Zeit gekommen, für die Wahrheit des Evangeliums zu kämpfen. So begann sie:
„Es mag geschwisterlicher Liebe entspringen, wenn einige von uns, die sich sonst wenig an die Thora gebunden fühlen, jetzt die Speisegesetze achten wollen, um die jüdischen Brüder nicht zu betrüben. Niemals aber darf es sein, daß eine solche Vorschrift uns voneinander trennen sollte. Gilt denn das Gesetz noch, daß jemand es von den anderen einfordern könnte als notwendig zum Heil in Christus? Das kann und das darf nicht sein, denn unser Heil kommt allein aus unserem Vertrauen in die Barmherzigkeit unseres Gottes. So haben wir es vom Herrn empfangen, und so haben wir es bisher gehalten.