Triebe und natürliche Gefühle werden verdrängt, weil die ängstliche Abhängigkeit von moralischen und konventionellen Normen an die Stelle im wirklichen Schicksal selbst erworbener Wertungen getreten ist. »Die Leere des Lebens«, sagt Jaspers, »führt zum Heucheln von Leben, zum sensationellen Scheinerleben, schließlich zur Förderung des hysterischen Charaktertypus« l. c. S. 307..
Wollen wir hier helfend eingreifen, »Erziehungstherapie treiben«, so müssen wir die Persönlichkeit des Kranken wachrufen, sie aufklären, sie zielklar zu beeinflussen suchen, zu Willensanstrengungen anhalten, oder im Gegenteil zur Aufgabe ihrer falschen Selbstbeherrschung und der dadurch entstehenden Verdrängungserscheinungen zwingen. Also denkbar entgegengesetzte Wege müssen eingeschlagen werden! »Auf der einen Seite muss gegenüber Hemmungen und aus theoretischen Grundsätzen konventioneller und anderer Art entsprungenen Einflüssen die Hingabe ans Unbewusste, das Wartenkönnen, das Horchen auf Instinkte und Gefühle gepflegt werden; es müssen Keime entwickelt werden, die im Unbewussten schlummern. Oder es muss sehr verschieden im Gegenteil zu Hemmung, Verdrängung, zur Selbstbeherrschung, evtl. Sublimierung erzogen werden, wenn Gebiete des Unbewussten, des Trieblebens sich allzu sehr auf Kosten anderer Gebiete breitgemacht und den Menschen aus der Bahn geworfen haben. So geht unsere Beeinflussung auf der einen Seite zu Aktivität, Handeln, Anspannung, auf der anderen Seite zu Hingabe, zum Gehenlassen, zur Anpassung, zum Vertrauen auf das eigene Unbewusste« Jaspers. S. 323..
Mag man zu dieser Lehre sich stellen, wie man wolle, mag man sie ganz oder teilweise berechtigt ansehen oder ablehnen, in jedem Falle erscheint es auch hier verwunderlich, dass der Zusammenhang hysterischer Erscheinungen mit sexuellen Einwirkungen in scharfsinnigster Weise enträtselt wird, und doch das tatsächliche Geschlechtsleben der Hysterischen kaum erwähnt wird. Die Kenntnis des letzteren erscheint aber doch in erster Linie vonnöten. Das Geschlechtsempfinden und die geschlechtliche Betätigung der Hysterischen muss man kennen, wenn man die Einwirkung eines sexuellen Traumas ermessen oder in so verhängnisvoller Tragweite abschätzen will.
Das Geschlechtsleben der Hysterischen
Das Geschlechtsleben der Hysterischen
In zahllosen Varianten, von der monosymptomatischen Einzelerscheinung bis zur kaleidoskopisch wechselnden, abenteuerlichsten Vielgestalt tritt die Hysterie dem Nervenarzt vor Augen. In zahllosen Varianten, von der kaum bemerkbaren Auffälligkeit bis zur verheerenden, Schicksale mit sich reißenden und zertrümmernden Vielgestalt erscheint dem Nervenarzt auch das Geschlechtsleben der Hysterischen. Diese stufenreiche Skala geschlechtlicher Erscheinungsformen ist wieder wesentlich verschieden bei Verheirateten und Unverheirateten, wesentlich verschieden bei der gehobenen und sozial tiefstehenden Gesellschaftsschicht, wesentlich verschieden bei Frau und Mann.
Die hysterische Frau
Die hysterische Frau
Betrachten wir zunächst das Weib, so sehen wir schon bei dem vollwertigen zu Beginn der Pubertätsperiode eine seelische und körperliche Umwandlung sich vollziehen. Was in den Genitalien sich an innersekretorischen Vorgängen abspielt, bis der Geschlechtstrieb nach Richtung, Stärke, Entspannungs- und Hemmungsmöglichkeit ausgebildet ist, muss reflektorisch Empfindungen und Vorstellungen in ungekannter Fülle wecken. Jede einzelne körperliche Wandlung wird im Gehirn verzeichnet und durch eigenartige Wandlung der Gemütssphäre beantwortet. Dass dieser grundgewaltige Sturm im Seeleninnern sich gradweise verschieden entlädt, je nach der vollen oder verminderten Widerstandskraft des innersekretorisch geladenen Gehirns, dass dieser grundgewaltige Sturm gerade bei hysterischen Mädchen oft zu seltsamen Ausbrüchen führt, auch in sexuell symbolisierten Ersatzhandlungen bis zu seltsamster Art sich ausprägt, kann nicht wundernehmen. In der Pubertätskrise tritt das spezifisch Weibliche zutage, körperlich und seelisch eine Umwandlung von Grund aus. Himmelhochjauchzende Stimmungen und weltschmerzliche wechseln bunt. Die Schwärmerei für die Lehrerin, den Lehrer, den Schauspieler, den Künstler treibt die sonderbarsten Blüten. In der unbestimmten Hinneigung zu Personen des anderen Geschlechts, in der Verpuppung jugendlichen Schwärmens bleibt der erwachende Geschlechtstrieb lange Zeit. Tief innen im Seelischen gärt es wild, hemmungslos, und alle diese Erscheinungen sind erotisch betont, erotisch verursacht, bewusst oder unbewußt. »Das geschlechtlich unerfahrene, gut veranlagte und wohlerzogene Mädchen,« sagt Kisch Untreue der Frau. S. 76, »hat nur eine naive Sinnlichkeit, ein unklares Denken an etwas, das sein Herz ersehnt, ein rätselhaftes Wünschen nach Liebe, aber trotz des Erwachens der Weibnatur kein triebartiges Begehren sexueller Richtung. Und dies oft auch nicht bis in die erste Zeit der Ehe hinein. Nur der Verführung durch geschlechtlich erfahrene Freundinnen, skrupellose junge Männer, schlechte erotische Lektüre, unzüchtige Schaustellungen u. dergl. gelingt es, bei solchen Mädchen die angeborene und anerzogene Schamhaftigkeit zu überwinden und eine geschlechtliche Begehrlichkeit zu wecken, welche zur Lüstelei und Triebhaftigkeit führen kann. Ein körperlich gesundes, geistig unverdorbenes, sinnlich unberührtes Mädchen, das überdies nur »vernunftgemäß aufgeklärt« wird, tritt in die Ehe mit einem tiefen Gefühl der Keuschheit. Erst die Gemeinsamkeit mit dem Manne erzieht die Frau zum geschlechtlichen Genusse, welcher in der Norm keineswegs solche Gewalt hat, dass er Sitte und Zucht schrankenlos überschreitet. In der Regel bedarf es in der ersten Zeit der Ehe eines impulsiven Vorgehens des Mannes, um sich die Gefolgschaft der Gattin auf dem erotischen Gebiet zu sichern«.
Je schwankender das Nervensystem ist, je suggestiver und hemmungsloser das hysterische Grundnaturell, je entarteter die Grundanlage, um so gefahrvoller wird schon in dieser Phase der sexuelle Drang. So kommt es vor, dass das hysterische Mädchen nach Befriedigung schreit, sie abenteuernd sucht, sich Männern aufdrängt, und zwar nicht einem Mann allein. »Von einfacher Koketterie bis zur Schmierenschauspielerei finden wir hier alle Übergänge,« sagt Lewandowsky Die Hysterie. Springer, Berlin 1914, S. 85. Das ist auch nicht verwunderlich, denn reizvoll im Äußeren, reizvoll im Wesen, wie gerade hysterische junge Mädchen oft sind, wirken sie bestechend auf die Männer- und die Frauenwelt, und, durch ihre Erfolge angestachelt und selbstbewusst, spotten sie aller erziehlichen Einflüsse, aller ernsten Warnungen und Voraussagen. Dass sie die Waffen der Koketterie besonders wirksam handhaben, ist nur zu begreiflich. Die Koketterie, diese »Betätigungsform der Passivität Fuchs, S. 238.«, ist nun einmal ein besonders weibliches Attribut, ist das wichtigste Werbemittel der Frau um den Mann in allen Zeitepochen und wird naturgemäß von der erotisierten Hysterika besonders geschickt und wirksam verwertet. Gejagt und getrieben von dem qualvollen inneren Drang, der selbst starke, erziehlich aufgebaute Schranken durchbricht und umwirft, wird das junge Geschöpf so früh und nur zu leicht ein Opfer seiner Lüste und sinkt mit dem einmal begonnenen Fall von Stufe zu Stufe.
Ein unsagbar trübseliges Bild, diese kaum dem Kindesalter entwachsenen und unrettbar dem Verderben geweihten Geschöpfe, die nur zu leicht in dem Sumpf der vagierenden Prostitution für immer versinken! Zu dieser hemmungslosen sexuellen Betätigung wirkt mitbestimmend vielleicht die allgemeine hochgradige Hyperästhesie, die je nach ihrem Sitz örtlich verhängnisvoll wird, und die als Hyperästhesie der Vulva und Vagina reizverstärkend, auf der anderen Seite Koitus verhindernd erscheint.
Doch der das tiefinnerste Empfinden aufrührende Sturm des erwachenden reifenden Geschlechtslebens mit seiner qualvollen Spannungsanhäufung und seinem sehnsüchtigen Drang führt auch bei hysterischen Jugendlichen nur selten zu vorzeitiger, hemmungsloser,