Setzt man an Stelle der »angehäuften Unlustgefühle« im Seelenleben das verdrängte, nicht erledigte, psychische bzw. sexuelle Trauma im Unterbewusstsein, so ist eigentlich kaum ein Unterschied in der Ausdeutung gegeben. Wir sehen also unter dem Einfluss der Freudschen Lehre, dass sexuelle Momente zu einer ausschlaggebenden Rolle bei der Hysterie avancieren. Von verdrängter Sexualität ist das Unbewusste erfüllt, kann dort sein Wesen treiben, muss in den Äußerungen des Unbewussten, den Träumen, als infantile Sexualwünsche zum Vorschein kommen, und die Hysterie muss Folge der Erlebnisse sein.
Nicht recht verständlich ist es, wie Neutra von einem »vollkommenen Schiffbruch der Sexualtheorie durch die Kriegserfahrungen« sprechen kann, wenn er fortfährt:
»... obwohl es nicht zu leugnen ist, dass in vielen Fällen von Hysterie der an dem psychischen Konflikte engagierte Trieb der Sexualtrieb ist. Er muss es aber nicht sein, sondern jeder andere Trieb ist ... ebenso geeignet, zur Trias der Hysteriewurzel, zu den Stücken des hysteriebildenden Konfliktes zu gehören, und daher erscheint die Anschauung von der sexuellen Genesis der Hysterie unhaltbar.«
Nicht recht verständlich muss ich diese Auffassung nennen, denn das Bekenntnis, dass der Sexualtrieb im Einzelfalle hysteriebildend mitwirkt, genügt doch zur Annahme seines möglichen Anteils an der Genesis der Hysterie. Weitere Bedeutung mag ich ihm auch nicht zusprechen, die Ausnahmslosigkeit oder gar allein entscheidende Wirkung muss ich ihm sogar ausdrücklich bestreiten. Auch als eine von vielen Entstehungsbedingungen ist er allzu lange geringschätzig behandelt oder gar überhaupt vernachlässigt worden. Mit Neutra und im Gegensatz zu Freud halte ich allerdings jeden anderen Trieb für ebenso geeignet, geeignetenfalls hysteriebildend zu wirken.
Der heuristische Wert der Freudschen Auffassung von der Entstehung der Hysterie ist unbestreitbar, wie man auch zu ihren Einzelheiten, und hier besonders ihrer einseitigen sexuellen Ätiologie sich stellen mag. Schon die Supponierung des Unbewussten fordert hypothetische Einstellungen, die man vom Boden der geläufigen psychologischen Lehre nur schwer aufbringen kann. Wir wissen ja nichts über die tatsächlichen Vorgänge, wenn ein Erlebnis dem Bewusstsein entschwindet. Sind es körperliche Verdrängungen, die es bewirken, und die bei bestimmter Wandlung es wieder aufleben lassen, oder was ist das Unbewusste, in das alle Erinnerungen versinken? Wo bleiben die Erinnerungen, wie ordnen sie sich, die doch in unzählbarer Menge ins Unbewusste hinabtauchen? Nach welcher Reihenfolge, nebeneinander, übereinander oder gar miteinander sich verschmelzend lagern sie sich? Ist das große Reservoir des Unbewussten dauernd aufnahmefähig? Nach welchem Prinzip geraten Erinnerungen automatisch in das Zentrum des Bewusstseins? Flottieren sie frei, um zufällig an die Oberflächengrenze zu gelangen? Kurz, eine rein hypothetische Annahme, dieses Unbewusste, und man kann das Bedenken Hellpachs verstehen, der in der Annahme des Unbewussten »das Untertauchen in einen Begriff« sieht, der »vielleicht metaphysische oder religiöse oder ästhetische Qualitäten, sicherlich aber keine wissenschaftlichen hat Grundlinien einer Psychologie der Hysterie. Engelmann, Leipzig.«. Hellpach meint sogar, dass die psycho-analytischen Gedankengänge Freuds ausgezeichnet waren, uns vor dem Absturz ins Unbewusste zu bewahren, und dass sie keinesfalls mit Notwendigkeit aufs Unbewusste hinabzuführen angetan waren. Indes, die Verdrängungsidee Freuds ist fruchtbar, bedeutungsvoll, nur in der ausnahmslosen Einstellung auf das Sexuelle unerträglich. Gleich unerträglich ist aber auch die Technik, mit der die Freudianer ihre Heilungsziele anstreben. Dass auch dem schöpferischen Meister Freud selbst ein Vorwurf nicht erspart werden kann, ist besonders bedauerlich. Der scharfsinnige Aschaffenburg Münch. med. Woch. 1906. Nr. 37.wird wohl wissen, warum er sagt: »Auf die Gefahr hin, von Freud und seinen Anhängern für unwissenschaftlich erklärt zu werden, muss ich gestehen, dass mir die Weise, mit der Freud in dem Falle, den er in seiner Arbeit ›Bruchstück einer Hysterieanalyse‹; schildert, das Geschlechtsleben erörtert und die Einzelheiten, über die dabei gesprochen wurde, zumal bei einer 14jährigen Patientin, einen nachhaltigen Widerwillen erregt haben«. Man braucht nicht so weit zu gehen wie Kräpelin, der uns »am Anfang vom Ende unseres Geschlechts« sieht, »wenn unsere vielgeplagte Seele durch längst vergessene unliebsame sexuelle Erfahrungen für alle Zeit ihr Gleichgewicht verlor« Lehrbuch d. Psychiatrie.. Doch muss man die Einengung auf sexuelle Kindheitserlebnisse, während alle späteren und anderen Erlebnisse, auch wo sie gewaltsam unterdrückt werden, dem Vergessen anheimfallen, nachdrücklichst ablehnen. Gewiss ist die Wirkung der ersten erotischen Eindrücke unberechenbar, vielfach geeignet, ein Menschenkind für lange Zeit aus dem seelischen Gleichgewicht zu bringen und der Entwicklung eine bestimmte Richtung zu geben. Es fehlt aber jeder Beweis, dass nur sexuelle Erlebnisse verdrängt werden.
Auch Neutra l. c. S. 296., der das psychische Trauma, sozusagen die Verletzung der Seele, als die durch eine äußere Situation hervorgerufene stärkere Mobilisierung irgendeines Triebes und der ihm gegenüberstehenden psychischen Hemmungen auffasst, vermag es nicht zu verstehen, warum Freud in erster Linie das psychische Trauma, abgesehen davon, dass er es immer für sexueller Natur hält, zeitlich stets in die Kindheit verlegt. »Es ist der Mensch in jedem Lebensalter befähigt, zu einem psychisch unlösbaren Konflikte durch irgendeine dazu geeignete Situation zu gelangen.«
So gewiss es ist, dass der Mensch, je mehr er sich der Geschlechtsreife nähert, und je mehr er durch erziehliche Einflüsse sich zu beherrschen gelernt hat, vornehmlich erotische Erlebnisse – Wirklichkeiten und Gedankengänge – unterdrücken, in sich verschließen muss, so gewiss ist es, dass auch Erlebnisse außerhalb alles Erotischen zu gleicher Zeit die Kinderpsyche beschäftigen können und verdrängenswert erscheinen.
Gegenüber dem Originalitätsanspruch der Freudschen Lehre verdient nachdrücklichst betont zu werden, dass wir längst wissen, wie unser bewusstes Leben nur gleichsam die oberste Schicht eines weiten und tiefen Reiches unter- und außerbewussten Geschehens ist. »Dieses unbewusste, unbemerkte Seelenleben beeinflussen, dessen Wirkungen leiten, ihnen freien Lauf lassen oder sie hemmen, das zu tun auf Grund von Selbstanalyse und klaren Zielen, darin besteht Selbsterziehung und psychotherapeutische Erziehung«, sagt Jaspers Allg. Psychopathologie. Berlin. Springer. 1913.. Und derselbe Jaspers fügt nachdenklich hinzu, dass fast immer der Mensch sich selbst, seinem eigenen Unbewussten gegenüberstehe. Sehr selten ist es, dass er sich gleichsam mit seinem Unbewussten, mit seinen Instinkten und Gefühlen völlig identifiziert. (Das kann vom wertenden Standpunkt aus sowohl ein gemeiner Charakter wie natürliche Größe sein.) Meist steht die Persönlichkeit mit ihrer eigenen Grundlage im Kampf, und diese Gegensätze der Persönlichkeit zum eigenen Unbewussten im Einzelfalle tief zu verstehen, dabei das Material des Unbewussten und die echten Strebungen der Persönlichkeit zu kennen, ist die Bedingung für eine klare, »erziehliche« Beeinflussung.
Von einer idealen Erziehung verlangt allerdings Hellpach, dass sie Verdrängungsmöglichkeiten weitgehend verhindre. Wo ist solche ideale Erziehung heutzutage möglich? Hellpach wendet schon gegen die Durchführbarkeit solcher, jede Verdrängung ausschließenden Erziehung ein, dass »die Hälfte unserer Erziehung in der öffentlichen Schule vor sich geht, Massenerziehung ist, also einer gewissen disziplinaren Grundlage gar nicht entraten kann: Und man sieht schon, wie oft diese Erziehung genötigt sein wird, das seelische Erleben des Kindes unorganisch abzukürzen – aller idealen Forderung ungeachtet. Nehmen wir aber gar statt dieser Forderung die Wirklichkeit, so finden wir, dass stellenweise die Verdrängung geradezu zum Prinzip erhoben wird« Hellpach, l. c. S. 380.. Ein klassisches Beispiel hierfür nennt er unser Verhalten gegenüber dem irgendwie gestraften Kinde. »Da