Metastasen eines Verbrechens. Christoph Wagner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christoph Wagner
Издательство: Bookwire
Серия: Heidelbergkrimi
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738098280
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Schreibtischschubladen waren herausgerissen, der Inhalt lag verstreut auf dem Boden. Sie kniete sich hin und griff dort, wo die Schubladen gewesen waren, unter die Schreibplatte. Nach wenigen Augenblicken rief sie erleichtert: „Gott sei Dank, sie haben sie nicht gefunden!“

      Sie erhob sich und hatte vier gefüllte DVD-Hüllen aus Papier in der Hand.

      „Sehen Sie nach, ob wirklich die richtigen DVDs drin sind.“

      Merle Blattau öffnete die erste Hülle. Ein Donald-Duck-Film kam zum Vorschein, und in den anderen Hüllen waren ebenfalls Spielfilmaufnahmen. Entgeistert sah sie die Sachen an, warf sie dann weit von sich, knickte in den Knien ein und schrie: „Scheiße, Scheiße, Scheiße!“

      Sie fing wieder heftig zu weinen an.

      Travniczek ließ ihr eine Weile Zeit und fragte dann: „Woher können die Einbrecher gewusst haben, dass hier die Sicherheitskopien sind?“

      Wieder traf ihn ihr hasserfüllter Blick: „Woher soll ich das denn wissen? Kriegen Sie’s raus!“

      Travniczek erschrak. Was ist das, fragte er sich, woher dieser abgrundtiefe Hass? Da spielt noch etwas hinein, von dem wir gar keine Ahnung haben. Der Fall hat noch eine andere Dimension.

      „Frau Blattau, wir werden uns alle erdenkliche Mühe geben“, sagte er indessen beruhigend. „Jetzt hätte ich noch drei ganz wichtige Fragen. Erstens: Wer war der Architekt, der das Projekt mit Herrn Lewandowski zusammen realisieren wollte?“

      „Sein Nachname ist Pranger, aus Karlsruhe. Mehr weiß ich nicht.“

      „Das wird reichen, ihn ausfindig zu machen. Die zweite Frage: Hatte Herr Lewandowski außer den beiden erwachsenen Kindern und seiner Mutter noch weitere nahe Angehörige, die benachrichtigt werden müssen?“

      „Nicht dass ich wüsste.“

      „Und drittens: Hat Herr Lewandowski völlig allein gearbeitet oder hatte er irgendwelche Mitarbeiter?“

      „In der letzten Zeit war da niemand.“

      „Das wäre es dann fürs Erste. Die Kollegen von der Spurensicherung werden sicher bis zum späten Abend zu tun haben. Wenn Sie Hilfe brauchen, vielleicht einen Arzt, wenden Sie sich vertrauensvoll an sie. Ich muss mich jetzt empfehlen. Ich werde Sie später sicher noch einmal ausführlich sprechen müssen. Wenn Ihnen zwischendurch noch etwas einfällt, Sie können mich jederzeit anrufen. Hier meine Karte. Dann auf Wiedersehen.“

      Er schickte sich an, die Küche zu verlassen. In der Tür drehte er sich noch einmal um.

      „Ach, Frau Blattau, eine allerletzte Frage hätte ich doch noch. Sie sagten vorhin, Sie seien am Empfang eines Hotels beschäftigt. Haben Sie das schon immer gemacht?“

      „Nein, eigentlich bin ich Schauspielerin. Warum fragen Sie?“

      „Nur so, aus Interesse. Und warum spielen Sie nicht mehr?“

      „Tja, wie das so geht. Ich stamme eigentlich aus Argentinien und war da zunächst am Theater, später dann vor allem im Fernsehen sehr erfolgreich. Vor elf Jahren bin ich dann nach Deutschland gekommen – wegen eines Mannes – und hier habe ich beruflich nicht mehr Fuß fassen können. Mein Typ war wohl gerade nicht gefragt.“

      Schauspielerin, dachte Travniczek. Da lag er doch vorhin richtig mit seiner Vermutung. Sie stammte aus Argentinien. Kam da nicht auch dieser Fries her? Gab es da irgendeine Verbindung? Aber der Name Blattau klang gar nicht nach Argentinien. Außerdem sprach sie akzentfreies Deutsch. Da konnte irgendetwas nicht stimmen.

      *

      Mit einem flauen Gefühl im Magen trat Travniczek zwanzig Minuten später an den Empfang im Michaelistift. Er wartete, bis sich ihm die diensthabende junge Dame zuwandte.

      „Guten Tag, Siegwalt mein Name. Was kann ich für Sie tun?“

      Der Kommissar zog seinen Ausweis hervor. „Joseph Travniczek, Kripo Heidelberg, Mordkommission.“

      „O Gott, Sie suchen doch nicht etwa hier bei uns nach einem Mörder?“

      „Nein, nein, ganz so schlimm ist es nicht. Aber trotzdem schlimm genug. Wir ermitteln in einem Tötungsdelikt. Die Mutter des Getöteten wohnt vermutlich bei Ihnen.“

      „Und wer soll das sein?“

      „Frau Lewandowski.“

      Frau Siegwalt erschrak sichtlich.

      „O nein, die arme alte Frau! … Wissen Sie, die hat schon so viel Furchtbares in ihrem Leben mitmachen müssen. Und jetzt auch noch das.“

      „Ja“, erwiderte Travniczek mitfühlend, „und ich habe die traurige Pflicht, ihr die schlimme Nachricht zu überbringen. Wo kann ich sie finden?“

      Frau Siegwalt zögerte.

      „Ich weiß nicht“, meinte sie dann, „ob das eine so gute Idee ist. Frau Lewandowski ist schon sehr betagt. Sie wird demnächst neunzig. Man kann nicht wissen, wie sie das aufnehmen wird.“

      „Das ist richtig. Aber man kann ihr die Wahrheit auch nicht ersparen.“

      „Natürlich nicht. Aber ich würde vorher gerne Herrn Dr. Hager, unseren Hauspsychologen, zu Rate ziehen, wenn Sie nichts dagegen haben.“

      „Wenn es nicht zu lange dauert. Meine Zeit ist natürlich begrenzt.“

      „Ja, selbstverständlich. Ich werde Herrn Dr. Hager hoffentlich gleich erreichen. Wenn Sie ein paar Minuten hier Platz nehmen wollen.“

      Sie deutete auf die Sitzgruppe gegenüber dem Empfangstresen. Travniczek setzte sich. Dieser Satz „Die hat schon so viel Furchtbares in ihrem Leben mitmachen müssen“, beschäftigte ihn sehr. Frau Lewandowski musste das Dritte Reich und den Zweiten Weltkrieg als Jugendliche und junge Erwachsene erlebt haben. Intuitiv sah er die Verbindung zu Lewandowskis Verdacht, dieser Mitbewohner Fries sei ein Kriegsverbrecher. Das Furchtbare, von dem hier die Rede war, musste damit irgendwie in Zusammenhang stehen.

      Da kam ein stattlicher Mann, bebrillt, in grauem Anzug an den Empfang und sprach eine Weile mit Frau Siegwalt im Flüsterton. Travniczek konnte nichts verstehen. Aber der Mann, sicher Dr. Hager, wirkte sehr beunruhigt. Bald darauf eilte er auf ihn zu.

      „Dr. Hager, Psychologe des Hauses, Frau Siegwalt hat mir berichtet, was geschehen ist. Können Sie schon etwas über die Umstände des Todes von Herrn Lewandowski sagen?“

      „Selbst wenn ich könnte, dürfte ich nicht. Laufende Ermittlungen. Aber wir wissen ohnehin noch fast gar nichts. Herr Lewandowski wurde heute Vormittag erschossen aufgefunden. Das ist alles. Ich hoffe, dass mir seine Mutter irgendetwas sagen kann, das uns weiterbringt.“

      „Sie wollen Frau Lewandowski jetzt gleich befragen?“

      „Wenn es irgend geht, ja. Je früher wir eine heiße Spur haben, desto sicherer werden wir den Täter überführen können. Da geht es oft um ein, zwei Tage, manchmal nur Stunden.“

      „Verstehe. Ich würde Sie aber trotzdem bitten, davon zunächst Abstand zu nehmen. Ich arbeite öfters mit der alten Dame. An sich ist sie ja eine sehr starke Persönlichkeit. Aber Sie müssen wissen, sie ist Jüdin und hat im Dritten Reich ihre gesamte Familie verloren. Eltern und Geschwister wurden in Auschwitz vergast. Sie selbst hat nur durch einen Zufall überlebt. Wenn jetzt auch ihr Sohn – übrigens ihr einziges Kind – ermordet wurde … nicht auszudenken, was dann passiert!“

      „Das kann ich verstehen. Aber das ändert nichts daran: Sie ist momentan unsere wichtigste Zeugin. Wir müssen da irgendeinen Weg finden.“

      Dr. Hager fuhr sich mit der Hand durchs Haar und atmete tief durch.

      „Können wir folgendermaßen verfahren?“, meinte er schließlich. „Ich werde jetzt wohl oder übel gleich mit ihr sprechen. Und wir werden sehen, wie sie es aufnimmt. Ich habe da keine Prognose. Es kann sein, dass sie völlig zusammenbricht. Es ist aber auch gut möglich, dass sie den Mörder schnell gefasst sehen will und sofort mit Ihnen sprechen möchte.