„Gibt es weitere Angehörige? Zwei hat er uns ja selbst letzten Donnerstag genannt: seine Mutter und seine Schwiegermutter im Michaelistift. Gibt es noch andere Menschen, die ihm nahestanden, Verwandte, Freunde, Geschäftspartner?“, fragte Travniczek nach.
„Bis jetzt Fehlanzeige. Hoffentlich finden wir in der Wohnung irgendein Adressbuch.“
„Wichtig ist“, ergänzte Brombach, „Lewandowski war vergangenen Freitag bei uns und hat den Verdacht geäußert, ein gewisser Fritjof Fries, der in dem Seniorenheim Michaelistift wohnt, lebe dort unter falschem Namen und sei möglicherweise ein gesuchter Kriegsverbrecher.“
„Natürlich“, griff Travniczek ein. „Es ist sicher kein Zufall, dass der Mord und die Aussage Lewandowskis zeitlich zusammentreffen. Aber gerade deswegen: Wir dürfen nicht aufhören, in andere Richtungen zu ermitteln. Herr Breithaupt, wie war die Lage am Tatort?“
Der Spusichef hatte zwischenzeitlich den Teller mit den Keksen erreicht und antwortete mit vollem Mund:
„Zum Opfer: Lewandowski wurde aus nächster Nähe in den Hinterkopf geschossen. Wir haben ein 6,35mm-Projektil sichergestellt. Das könnte auf eine Walther PP als Tatwaffe hindeuten, die gängige Dienstwaffe der deutschen Offiziere im Zweiten Weltkrieg. Wenn sich das bestätigen lässt, wird das sicher ein guter Anhaltspunkt sein, wo man den Täter suchen muss. … Lewandowski saß bei der Tat auf einer Bank vor dem Riemenschneideraltar. Wir können davon ausgehen, dass er seinen Mörder überhaupt nicht gesehen hat. Weiter gibt es in Tatortnähe jede Menge Spuren: Kleiderfasern, Haare etc. Aber da dieser Raum natürlich sehr stark frequentiert wird, hat das meiste davon sicher nichts mit der Tat zu tun. Damit lässt sich sowieso erst etwas anfangen, wenn wir konkrete Tatverdächtige haben.“
„Sie waren doch auch schon in Wohnung und Büro von Lewandowski?“, fragte Travniczek ungeduldig nach.
„Nein, die Arbeiten im Museum waren zu umfangreich. Aber wir werden in Kürze dort weitermachen.“
„Dann gehen wir, sobald wir hier fertig sind, da auch gleich hin“, meinte Travniczek. „Ich habe Folgendes herausgefunden: Nach Aussage von Walter Hauschild, der die Aufsicht für den Tatraum hatte, muss der Mord zwischen 9 Uhr 35 und 9 Uhr 45 begangen worden sein, also ein sehr kleines Zeitfenster. Leider hat er niemanden beobachtet, der ihm irgendwie verdächtig vorgekommen wäre. Ich habe hinterher die Mitarbeiter des Museums befragt. Dabei ist nichts weiter herausgekommen. Sie waren nur alle fürchterlich beleidigt, als ich auch nur die Möglichkeit andeutete, der Täter könnte auch einer von ihnen sein. Ein gewisser Pflaumer hat sich besonders lautstark aufgeregt und der Herr Direktor warf mir Wildwest-Methoden vor. Zur Videoüberwachungsanlage: Michael, du wolltest dich darum kümmern. Was ist dabei herausgekommen?“
„Nichts, was uns direkt weiterbringt, aber vielleicht doch der Schlüssel für den Fall.“
„Du sprichst in Rätseln“, meinte Martina Lange und sah ihn fragend an.
„Die Sache ist auch äußerst rätselhaft. Und angesichts der Reaktion von Pflaumer und Semmelroth wird sie noch rätselhafter. Als ich die Aufnahmen ansehen wollte, stellte sich heraus, dass die Überwachungsanlage um 9 Uhr 34 ausgeschaltet wurde und ab 9 Uhr 47 wieder an war.“
„Von wo wird die Anlage gesteuert?“, fragte Travniczek dazwischen.
„Es gibt zwei Schalter. Einer ist im Büro des Museumsdirektors, der andere am Tresen im Foyer. Der Direktor sagt aus, er sei während der ganzen Zeit im Büro gewesen, und Pflaumer, der Mann im Foyer, will ungefähr in dieser Zeit für einige Minuten auf der Toilette gewesen sein.“
„Selbst wenn dieser Mensch kurzzeitig nicht am Tresen stand“, warf Travniczek ein, „ist es vorstellbar, dass jemand Fremdes an den Tresen gegangen ist, um die Videoüberwachung aus- und vor allem auch wieder einzuschalten? Der oder die Täter waren ja sicherlich sehr dreist. Aber so etwas?“
„Das halte ich für nahezu ausgeschlossen“, bemerkte Lange.
„Das bedeutet aber“, setzte Travniczek seinen Gedankengang fort, „der Täter muss einen Komplizen unter den Museumsmitarbeitern haben.“
„Und zwar am ehesten diesen Herbert Pflaumer, der im Foyer Dienst hatte“, meinte Brombach.
„Oder den Herrn Direktor höchstselbst“, warf Lange süffisant ein.
„Aber warum regen sich gerade diese beiden so sehr auf, wenn ich von einem möglichen Täter unter den Museumsmitarbeitern rede?“, fragte Travniczek.
„Der getroffene Hund bellt“, stellte Brombach fest.
„Ich muss stören“, unterbrach Frau Siebert ihre Unterredung. „Eine Merle Blattau hat angerufen, sie sei die derzeitige Lebensgefährtin von Benjamin Lewandowski. In die Wohnung und das Büro sei eingebrochen und dabei eine ziemliche Verwüstung angerichtet worden.“
„Mist! Da war jemand schneller als wir. Ich gehe da jetzt sofort hin“, verkündete Travniczek, „und ihr überprüft diesen Pflaumer – und den merkwürdigen Herrn Direktor. Sucht nach Verbindungen zu Lewandowski und weiteren Anhaltspunkten, ob die mit dem Mord irgendetwas zu tun haben könnten. Breithaupt, Sie kommen bitte so schnell wie möglich nach. Und denkt auch noch einmal über das Asylbewerberheim nach. Ich will die Kerle unbedingt kriegen.“
Er nahm noch einen kräftigen Schluck Kaffee und verschwand.
*
Travniczek ging nachdenklich zu seinem Wagen. Wenn der Mord an Lewandowski mit dessen Aussage vor vier Tagen zusammenhing, dann war er mit schuld. Dann hatte er die Brisanz der Aussage unterschätzt. Aber war es denn denkbar, dass dieser alte Mann aus dem Michaelistift der Täter ist? Wohl kaum. Hatte dann dieser Fries einen Killer beauftragt? Die Kaltblütigkeit der Tat könnte darauf hindeuten. Oder – Fries war nicht allein. Es gab noch andere, die Angst hatten, Fries könnte enttarnt werden. Aber das konnten doch nicht alles alte Männer sein. Er war also mitten in den Neonazisumpf hineingeraten. Hatte der Mord an Lewandowski vielleicht sogar irgendwie mit dem Anschlag auf das Asylbewerberheim zu tun? War dieser ominöse Reiterhof der Schlüssel?
Ekel stieg in ihm hoch. Er hatte in München einmal einen Fall in diesem Milieu gehabt. Mit Grauen erinnerte er sich an die Vernehmungen, denn selten hatte er so viel Menschenverachtung erlebt. Ganz normale Berufsverbrecher waren ihm da sehr viel lieber.
Aber vielleicht sorgte er sich umsonst und der Mord hatte ganz andere Gründe. Doch sein Bauch sagte ihm, dass das nicht stimmen konnte.
Er brauchte unverhältnismäßig lange zur Wohnung von Lewandowski in der Friedrichstraße, denn er hatte sich verfahren. Er wusste nicht, dass die Plöck* nach der Märzgasse ein Stück weit Fußgängerzone ist, und musste so einen großen Umweg machen.
Das Haus in der Friedrichstraße, in dem Lewandowskis Wohnung und Büro lagen, schien Travniczek noch aus dem 18. Jahrhundert zu stammen. Die reichverzierte Eingangstür stand offen. In der ersten Etage fand er eine Wohnungstür nur angelehnt, das Schloss herausgebrochen. Profis waren das sicher nicht, dachte er, und läutete. Da niemand reagierte, öffnete er die Tür vorsichtig einen Spalt. Da kam eine Frau auf ihn zugelaufen und schrie ihn an: „Was unterstehen Sie sich, hier einfach einzudringen!“
Travniczek registrierte kurz: Mitte vierzig, lange blonde Haare, intensiv geschminkt, enganliegende schwarze Designerjeans, knappes hellrotes T-Shirt, nabelfrei, nichts drunter, beeindruckender Busen.
Durchaus etwas verwirrt zeigte er seinen Ausweis, kam aber nicht dazu sich vorzustellen, da die Frau ihn sofort mit einem aggressiven Wortschwall attackierte: „Ach, die Polizei! Warum dauert das so lange, bis hier endlich jemand kommt? Vor fast einer Stunde habe ich angerufen, es ist wirklich unerhört! Ich wette, wenn irgendein Kümmeltürke angerufen hätte, wären Sie nach zehn Minuten mit einem Dutzend Leuten da gewesen.“
Travniczek sah instinktiv auf die Uhr und stellte