Kiéran wollte den Einspänner hinter der Hütte abstellen und Louc in den Stall bringen, doch irgendetwas ließ ihn zögern. Sein Nacken prickelte, so wie oft, wenn Gefahr drohte. Irgendetwas stimmte hier nicht! Rasch schlug er die Kapuze zurück und wandte sich um, sondierte das Gelände mit seinen neuen Augen, die kein Licht mehr brauchten. Auf den ersten Blick fiel ihm nichts Bedrohliches auf, doch das hieß nicht, dass alles in Ordnung war.
Kiéran zog sein Schwert, das ihm seine Escadron zum Abschied geschenkt hatte, und umrundete die Hütte. Seit er blind geworden war, schaffte er es nicht mehr, sich lautlos zu bewegen – und auch jetzt trat er auf einen Zweig, der mit einem Knacken brach. Verdammt! Es war nur ein kleiner Trost, dass ihn das hohe Gras so oder so verraten hätte, mit einem Wispern strich es gegen seine Beine. Wenn hier irgendwo Angreifer lauerten, hatten sie ihn längst gehört.
Als er am kleinen Fenster der Hütte vorbeikam, klopfte er an die Glasscheibe und bedeutete Jerusha, drinnen zu bleiben. Er beachtete ihre aufgeregten Was ist los?-Zeichen ebenso wenig wie das Prickeln des Nieselregens auf seinem Gesicht, vorsichtig bewegte er sich weiter. Hin und wieder blieb er stehen und lauschte – seit er fast nichts mehr sah, verließ er sich immer mehr auf seine Ohren. Diesmal meldeten sie ihm ein leises Geräusch aus dem Obstgarten. Vielleicht war es nur ein Huhn, das den Boden aufscharrte, aber irgendwie glaubte er nicht daran.
Momente später sah Kiéran ihn auch schon, den Fremden, der an irgendetwas lehnte, wahrscheinlich einem der alten Apfelbäume. Jeder andere hätte ihn sicher für einen gewöhnlichen Menschen gehalten, doch für Kiérans neue Augen strahlte die Gestalt so hell, dass er sich am liebsten abgewandt hätte. Das war ein Elis, einer der Anderweltler aus Khorat!
Unerwarteter Besuch
Der Schreck fuhr Kiéran durch den ganzen Körper. Hatte die Invasion begonnen, war dieser Kerl ein Krieger oder Kundschafter? Nein, der fremde Elis schien ganz entspannt – er trug zwar ein Schwert, hatte es aber nicht gezogen. Trotzdem war Kiéran auf der Hut. War das einer von Aláes Leuten? Vielleicht hatte der Bastard irgendwie herausgefunden, dass Jerusha ihm ein neues Amulett verschafft hatte als Ersatz für das zerstörte Exemplar ...
„Gi sa wyín, ardesh k´ion“, sagte der Elis; Kiéran wusste noch, was das hieß: ´Gesegnet sei dein Tag, und voller Licht´.
„Ich habe keine Ahnung, was man darauf eigentlich antwortet“, entfuhr es Kiéran.
„Einfach das gleiche“, meinte der Elis. Er sprach jetzt Ouén, sehr gut sogar, wenn auch zögernd, als habe er es erst vor kurzem gelernt. „Zumindest, wenn man höflich sein will.“
„Na gut. Gi sa wyín und so weiter.“ Kiéran fehlte gerade die Geduld für solche Feinheiten. „Wer seid Ihr und weswegen seid Ihr hier?“
„Erkennst du mich nicht mehr, Lin´tháresh?“, sagte der Fremde, er klang ein wenig enttäuscht. Lin´tháresh – Tiefseher. So hatte man ihn in Khorat genannt, weil er weniger und doch mehr sah als ein gewöhnlicher Mensch.
Inzwischen dämmerte es Kiéran, wer da vor ihm stand. Das war einer der jungen Burschen, die am Königshof der Elis Aénor in Moranshir lebten und dort tun und lassen konnten, was ihnen beliebte. Zum Glück einer der netteren. „Colmarél?“
Die Gestalt des Besuchers strahlte noch heller, der Kerl freute sich. „Ja, Lin´tháresh, ich bin es. Wo ist deine Gefährtin, die Drachenschwester?“
„Genau hier“, hörte Kiéran eine vertraute Stimme hinter sich. Jerusha lehnte in der Tür der Kate, natürlich hatte sie es nicht lassen können, nachzusehen, was los war.
Anscheinend erfreut wiederholte Colmarél seine Begrüßung und verbeugte sich mit vollendeter Eleganz vor ihr. „Lady Jerusha, es ist schön, Euch so wohl zu sehen.“
„Warum kommt ihr beiden nicht rein? Es regnet.“ Jerusha hielt die Tür auf. Xatos´ Rache! Manchmal war sie wirklich zu nett für diese Welt. Noch wussten sie nicht, was dieser Elis vorhatte, und sie bat ihn einfach so ins Haus.
Kiéran seufzte, steckte sein Schwert in die Lederscheide zurück und folgte Colmarél in die Hütte.
***
Jerusha wusste selbst nicht genau, was sie fühlte. Einerseits war es ein Alptraum gewesen, was sie in Moranshir erlebt hatten, andererseits waren viele der Eliscan freundlich zu ihnen gewesen, allen voran Königin Célafiora. Und Colmarél war ihnen gegenüber nie so arrogant aufgetreten wie sein Freund Silmar, deshalb freute sie sich nach dem ersten Schrecken fast, ihn zu sehen.
Colmarél war etwa so groß wie Kiéran und musste sich so wie er beim Hereinkommen bücken, damit er sich nicht den Kopf am Türrahmen stieß. Dann stand er mitten in der niedrigen Wohnstube der Kate und sah sich um; auf seinem schönen Gesicht, das von langen roten Locken umrahmt wurde, stand staunende Neugier. Vielleicht war er noch nie in einem Menschenhaus gewesen. Wahrscheinlich fand er es furchtbar unharmonisch und ärmlich.
Dann blickte er an sich herab, und seine Miene trübte sich, denn sein schickes taubengraues Lederwams, unter dem er ein weißes Seidenhemd trug, hatte arg unter der Feuchtigkeit gelitten. Und sein Lederhut sah aus wie etwas, das Kinder aus dem Dorfweiher gefischt hatten.
„Könnt ihr nicht bestimmen, dass es aufhört?“, fragte Colmarél sie mit leichter Verzweiflung und deutete aus dem Fenster.
Jerusha musste lachen. „Der Regen? Nein, sowas können wir hier nicht. Und es hätte noch schlimmer kommen können, manchmal schüttet es richtig.“
Der Gesichtsausdruck des jungen Elis zeigte deutlich, was er davon hielt.
Sie blickte zu Kiéran hinüber, um sich mit ihm gemeinsam darüber zu amüsieren, doch Kiéran stand mit gekreuzten Armen nahe der Tür, sein Gesicht war ausdruckslos. Er traute ihrem Besucher nicht über den Weg, so viel war klar. „Hat dich jemand gesehen?“, fragte er jetzt. „Wo ist dein Pferd?“
„Wartet im Wald auf mich – gut verborgen, so wie ich bei meinem Weg hierher“, antwortete Colmarél mit einem Anflug von Stolz.
Das war gut. Sonst hätte er ganz sicher Aufsehen erregt im kleinen, beschaulichen Loreshom, und sofort hätten die Lästermäuler begonnen zu spekulieren, wer er war.
„Was bringt dich her?“, fragte Jerusha, die es nicht länger schaffte, ihre Neugier im Zaum zu halten. „Wer schickt dich?“
„König Qedyr“, erklärte Colmarél und ließ sich sehr vorsichtig auf einem der Holzstühle, die um den Esstisch herumstanden, nieder. So als sei er nicht sicher, ob das Ding womöglich unter ihm zusammenbrechen würde.
Nicht Aláes. Allen Göttern sei Dank, nicht Aláes. Jerusha konnte sehen, wie sich Kiéran entspannte. Qedyr und Königin Célafiora waren gute Herrscher, sie hatten Jerusha beeindruckt durch ihre Würde und Großherzigkeit.
„Aber warum, was will der König von uns?“, hakte sie vorsichtig nach.
„Qedyr bittet euch beide um einen Gefallen.“ Plötzlich war Colmaréls Ton förmlich, und er wechselte in die Alte Handelssprache. Jerusha ahnte, dass er jetzt eine offizielle Botschaft vortrug. Sie war nur nicht sicher, ob sie richtig gehört hatte. Wieso glaubte einer der mächtigsten Herrscher des Reiches Khorat, dass sie irgendetwas für ihn tun konnten? Ungeduldig wartete sie darauf, dass der junge Elis weitersprach.
„Der König lässt fragen, ob ihr ihn durch Ouenda geleiten könnt. Er will sich unerkannt reisend selbst ein Bild davon machen, ob ihr Menschen wirklich einen Krieg gegen die Eliscan plant, so wie es viele in Khorat glauben.“
Jerusha blieb die Luft weg. Mit vielem hatte sie gerechnet, aber nicht mit so etwas. Kiéran starrte Colmarél an, er wirkte genauso verblüfft wie Jerusha. Doch er nahm sich Zeit mit der Antwort, wog jedes Wort ab. „Er nimmt also ernst, was ich versucht habe, ihm zu sagen. Dass nicht wir es sind, die den Krieg beginnen wollen.“
„Ja. Es ist eine wahre Möglichkeit, dass