Der Gedanke ließ Paul einfach nicht los. Den ganzen Vormittag ratterte es wie verrückt in seinem Kopf, sodass er darüber sogar die geheimnisvolle Schachtel in seinem Pullover vergaß.
Weil sein Gedankenkarussel einfach nicht stillstehen wollte, fasste er einen Entschluss: Dem alten Gandalf musste geholfen werden. Nur wie und womit? Das war die große Frage.
Am Nachmittag konnte Paul einen Blick in Gandalfs Wohnzimmer erhaschen. Dort saß der alte Mann zusammengekauert in seinem Schaukelstuhl und starrte sinnlos ins Leere. Paul konnte sich die Tränen nicht verkneifen und ihm rannen vor lauter Mitleid ein paar dicke Tropfen die Wangen hinunter. Ich muss ihm helfen, dachte er immer wieder, ich muss es einfach! Mal schauen ob Mama eine Idee hat, überlegte er und wischte sich die Tränen am Pulloverärmel ab. Aber ob Mama ihm auch weiterhelfen konnte, war die Frage. Sie fand nämlich, dass Gandalf ein ganz komisch-seltsam-merkwürdig-verkauzter alter Kauz war. Ja, genauso sagte sie das immer.
Als Pauls Mutter, am späten Nachmittag, endlich von der Arbeit Heim kam – sie arbeitete in einem Krankenhaus und musste daher sogar am Heiligen Abend »ranrauschen«, wie sie es formulierte, stürmte der Junge ihr sofort entgegen. »Mama, Mama, du musst mir unbedingt helfen«, rief er und zerrte seine Mutter zum Fenster. »Schau mal, wie traurig und alleine Gandalf in seinem Schaukelstuhl sitzt. Wir müssen was machen. Wir müssen ihm helfen! Hast du eine Idee?«
»Jetzt beruhig dich erst mal«, sagte Pauls Mama und strich ihrem Sohn vorsichtig über den Kopf. »Du bekommst ja kaum Luft beim Sprechen.« Sie warf ihre Haustürschlüssel auf das kleine Schränkchen im Flur. Dann sagte sie: »Weißt du, wir haben heute keine Zeit. Heute ist doch Heiliger Abend. Hast du das etwa vergessen? Wir müssen jetzt unsere Sachen packen und dann zu Tante Mira und Onkel Bernd fahren. Die warten doch schon auf uns und der Weihnachtsmann kommt doch auch noch vorbei und will …« Aber Paul ließ seine Mutter nicht ausreden. Enttäuscht rief er mitten in ihren Satz hinein: »Ach Mann«, und lief tränenüberströmt in sein Zimmer. Er hatte plötzlich gar keine Lust mehr zu den doofen Verwandten zu fahren und was der Weihnachtsmann wollte, war gerade auch überhaupt nicht wichtig. Viel lieber wollte er sich zusammen mit Mama, etwas Schönes für Gandalf ausdenken und den Weihnachtsabend mit dem einsamen Mann verbringen. Nachdem Mama sich schnell die Schuhe und die Jacke ausgezogen hatte, folgte sie ihrem Sohn ins Zimmer. »Paul«, meinte sie tröstend, »ich verspreche dir, dass ich dir helfe, sobald Weihnachten vorbei ist. Dann überlegen wir uns etwas Schönes für Gandalf, okay?«
»Aber Gandalf braucht jetzt unsere Hilfe, Mama, und nicht erst nach Weihnachten!«, rief Paul verzweifelt. »Er ist doch so allein!«
Mama zuckte nur mit den Schultern und wusste so gar nicht, was bloß in ihren Jungen gefahren war. Besorgt machte sie sich daran, die Sachen für den Heiligen Abend zu packen. Die Geschenke mussten in die Geschenkekiste und sie hatte ein paar schöne Weihnachtsschlemmereien gekocht und gebacken, die noch in Plastikbehälter gefüllt werden mussten, bevor es losgehen konnte. Außerdem hatte sie einen geheimnisvollen Zettel für den Weihnachtsmann vorbereitet, den dieser Paul unterm Weihnachtsbaum vorlesen sollte. Zum Schluss legte sie noch für sich selbst und für Paul feierliche Anziehsachen bereit, die sie noch in der letzten Nacht fein säuberlich gebügelt hatte. Was war nur plötzlich mit ihrem Jungen los, fragte sie sich und wusste keine Antwort. Ja, auch sie hatte sich schon so manches mal gefragt, wie es dem alten Mann von Gegenüber wohl so erging, aber Paul schien sich ja regelrecht in seine Idee, dem Alten helfen zu wollen, hineinzusteigern. Sogar auf dem Weg zur Bushaltestelle konnte Paul an nichts anderes denken und er schielte seine Mutter vorwurfsvoll und enttäuscht von der Seite an.
»Paul was ist denn mit los dir?«, fragte Mama deshalb, »Du guckst mich so komisch von der Seite an. Du hast dich doch so auf den Heiligen Abend bei Tante Mira und Onkel Bernd gefreut.« Doch der Sohnemann zuckte nur lustlos mit den Schultern, brummte etwas vor sich hin und setzte missmutig einen schleppenden Schritt vor den anderen. Na, das konnte ja ein tolles Fest werden…
Nach dem Weihnachtsessen saß Mama mit Tante Mira und Onkel Bernd noch lange am Tisch, während Paul im Nebenzimmer mit Arumabus, dem alten Kater von Tante Mira und Onkel Bernd spielte. Eigentlich wollten sie jetzt zur Bescherung übergehen. Die Geschenke lagen schon alle unter dem Tannenbaum bereit und der Weihnachtsmann würde schon ganz bald an der Tür klingeln. …
›Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde: Geboren werden hat seine Zeit, sterben hat seine Zeit; pflanzen hat seine Zeit, ausreißen, was gepflanzt ist, hat seine Zeit; töten hat seine Zeit, heilen hat seine Zeit; abbrechen hat seine Zeit, bauen hat seine Zeit; weinen hat seine Zeit, lachen hat seine Zeit; klagen hat seine Zeit, tanzen hat seine Zeit.‹
(Prediger 3,1-4)
Unser ›Anders-Autor‹ Alexander hatte die Zeit nicht mehr, diese Geschichte zu beenden. Trotzdem haben sich der Verlag und seine Autorenkollegen entschieden, diese unvollendete Geschichte in die diesjährige Anthologie aufzunehmen. Es soll unsere Anerkennung ausdrücken, die wir alle darüber empfanden, dass er, obwohl er eben anders war und es schwerer hatte, es immer wieder geschafft hat, Geschichten und sogar sein Buch ›Manuel – das Anderskind‹ zu schreiben. Wer immer dieses Buch gelesen hat, kennt sein Schicksal, das ihn von Kindheit an begleitete und bedrohte. Dieses Mal hat er es leider nicht geschafft und deshalb wird die Geschichte unvollendet bleiben. Somit hat uns unser ›Anders-Autor‹ eine ›Anders-Geschichte‹ hinterlassen und es bleibt jedem Leser selbst überlassen, das fehlende Ende mit eigenem Inhalt zu füllen.
Claus Beese
Der Eingang zu der Höhle war riesig und gähnte ihn als gigantisches schwarzes Loch an. Zu groß für eine Bärenhöhle, aber selbst als Tor zu einer Drachenhöhle waren die Ausmaße reichlich dimensioniert. Zögernd blieb der Mann vor dem gähnenden Schlund in die Unterwelt stehen, fasste sein Schwert noch fester, sodass die Knöchel an seiner Hand weiß hervortraten. Welch ein Wahnsinn, sich mitten im Winter so weit im Norden auf ein solches Abenteuer einzulassen. Doch sprach nicht die Sage von einem gar holden Frauenzimmer, das seit langen Zeiten von einem monströsen Drachen hier gefangen gehalten wurde? Gerüchten zufolge sollte es eine Prinzessin sein, derer sich das geflügelte Ungeheuer bemächtigt hatte. Viele Jahre hatte er mit der Suche nach Details zum Standort der Drachenhöhle verbracht, war von Ort zu Ort gezogen und hatte die Bibliotheken vieler Klöster und Burgen besucht, und nun war er sich sicher. Dieses war der Ort. Die Größe des Höhleneingangs ließ nur einen Schluss zu, es musste der Eingang zur Drachenwelt sein, die sich hier im Untergrund unter dem ewigen Eis und Schnee der Arktis befinden musste.
Er tastete nach dem Kreuz unter seinem Umhang, fühlte die Kühle des Metalls, spürte das feste Band, an dem es um seinen Hals hing. Mit tastenden Schritten bewegte er sich vorwärts, hinein in die Dunkelheit, die ihn nach wenigen Schritten verschluckte. Er verspürte die aus dem Untergrund aufsteigende warme Luft, die jedoch merkwürdigerweise gar nicht nach Drachen