„Was für ein ungehobelter…“, brummt Sebastian, der bereits das Gepäck auf die kleine Plattform vorne am Waggon hinauf gehievt hat und von dort aus die ganze Szene beobachtet hat.
„Lass gut sein“, murmelt die junge Frau und klettert auf das Trittbrett des Waggons, der wenige Augenblicke später anruckt und rumpelnd in Richtung Borkum Stadt fährt.
Drinnen im Waggon ist es erstaunlich warm, weil die Heizspulen unter den Holzbänken auf Hochtouren laufen. Moritz genießt das sanfte Schaukeln der Insel-Eisenbahn und betrachtet nachdenklich die vorbeiziehende Landschaft. In der abendlichen Dämmerung ist kaum etwas zu erkennen, nur manchmal sieht er die gelblichen Scheinwerfer von Autos, die auf der Straße neben der Bahn vorbeifahren. Ansonsten: tote Hose. Ganz anders als im Sommer.
„So“, reißt Sebastians fröhliche Stimme Moritz aus seinen Gedanken. „Du heißt also Lotta. Gefällt mir.“
„Carlotta“, antwortet die junge Frau und hindert ihren Koffer daran, in den Gang zwischen den Bankreihen zu rollen.
„Gefällt mir auch“, erwidert Sebastian unbefangen, während Moritz ihm einen prüfenden Blick zuwirft. Ob er Maja bereits wieder vergessen hat? Offenbar ja, denn er schließt sogleich eine weitere Frage an, die er nicht stellen würde, wenn er kein Interesse an einer weiteren Bekanntschaft hätte.
„Meine Großmutter hat ein Haus hier auf der Insel“, antwortet Carlotta nach kurzem Zögern. „Sie hat es meiner Mutter vererbt. ‚Haus Westwind‘ heißt es.“
„Hey, das kenne ich“, rutscht es Moritz heraus. „Ein schönes altes Haus.“
„Ja?“ macht sie und zieht überrascht die fein geschwungenen Augenbrauen hoch. „Wie alt? Ich meine, ist es sehr baufällig?“
„Nicht doch“, erwidert er und lächelt. „Als wir im Sommer hier waren, sah es noch sehr gut aus; vor ein paar Jahren renoviert, würde ich sagen.“
„Wir bringen dich hin“, mischt sich Sebastian wieder ins Gespräch ein. „Wir kommen sowieso daran vorbei, denn wir wohnen in der alten Signalstation, kurz hinterm Deich an der Süderstraße.“
„Danke, das ist nett“, antwortet Carlotta und lächelt ihn an.
*****
Familienbande
Sie schrie auf, als er zuschlug. Mit der flachen Hand traf er sie im Gesicht, bevor er ihr den Mund zuhielt. Seine andere Hand fixierte ihre Arme wie schon so viele Male zuvor. Unter sich spürte sie die dünne Matratze und das harte Bettgestell, gegen das er sie mit jeder seiner ruckartigen Bewegungen stieß, bis ihr Rücken begann taub zu werden.
Tränen flossen ihr aus den Augenwinkeln und rollten in dünnen Bächen auf das geblümte Kopfkissen, während sein Keuchen über ihr von Stoß zu Stoß zunahm. Sie wollte weiter schreien, treten, beißen, schlagen, kratzen. Doch sie konnte sich nicht rühren. Sie dachte an das ungeborene Kind in ihrem Bauch, hielt still und wartete, dass es endlich vorbei sein möge.
Sie glaubte plötzlich, unter der Decke zu schweben und auf sich selbst herabzusehen. Sie sah ihren eigenen zierlichen Körper mit der deutlichen Rundung in der Körpermitte, auf der Seite liegend und starr wie ein totes Tier, dazu ihre eigenen schmerzerfüllten, tränennassen Augen, die wie immer wild nach einem Weg suchten ihm zu entkommen. Sie sah ihre schmalen Arme über ihrem Kopf, die taub wurden, weil er ihr das Blut abpresste. Und sie sah seinen großen Körper, der schwitzend über ihr hing und rhythmisch zuckte…
Als er schließlich wie das Schwein, das er war, mit einem Grunzen von ihr abließ, zog sie das Nachthemd über ihre nackten Beine bis zum Knie hinab und angelte blindlings nach der Bettdecke. Sie musste schlafen, vergessen, weiterleben. Schon um des Kindes willen. Es war das Einzige, was ihr von Micha geblieben war. Die einzige Erinnerung an ihr richtiges Zuhause, an das Leben vor ‚ihm‘.
Sie hörte, wie er ächzend einen erschöpften Schritt nach dem anderen machte und ihre kleine Kammer verließ. Er stieß gegen den Besenstiel, der außen neben der Tür an der Wand lehnte und warf ihn mit einem Fluch um, sodass der Stiel auf die kalten Steinfliesen der Diele klapperte.
Dafür würde sie morgen mit Sicherheit eine weitere Strafarbeit erhalten, da konnte sie sicher sein. Tagsüber behandelte er sie wie eine Dienstmagd, eine bessere Sklavin, auch wenn sie tatsächlich Großonkel und Nichte waren. Nachts aber… Sie zwang sich, den Gedanken nicht weiter zu denken.
Sie hörte, wie die schalldichte Tür mit einem leisen Schmatzen ins Schloss fiel. Der Riegel wurde von außen vorgeschoben. Sie war allein. Das trübe, gelblich kranke Licht der nackten Glühbirne neben dem Türrahmen flackerte. Dann ging es aus und ließ sie im Dunkeln zurück.
Sie hatte keine Angst, das hatte sie schon vor Monaten aufgegeben. Dunkelheit und Einsamkeit machten ihr nichts aus, im Gegenteil. Sie war froh, wenn sie für sich sein konnte. In ihrem Zustand war sie dankbar für jeden Moment der Ruhe und Erholung, von denen er ihr jedoch nur wenige gönnte.
Dennoch war sie froh, wenn er nicht in ihrer Nähe war. Sie verabscheute seine Gegenwart, die keine Gesellschaft, sondern eine ständige Bedrohung war. Sie wusste, was sie von ihm zu erwarten hatte. Sie kannte ihn. Und sie hasste ihn.
Sie rollte sich zitternd auf die andere Seite und strich mit einer Hand über ihren gewölbten Bauch, in dem das Kind lebte. Ihr Kind. Das Kind von Micha, dem Helden. Wie sehr vermisste sie Micha und seine Zärtlichkeit. Sie hatten heiraten wollen, damals im vergangenen Herbst. Der Ring an ihrer Hand war ein Traum und ein Versprechen gewesen.
Doch dazu war es nicht mehr gekommen. Sechs Menschen – darunter sie selbst – hatte Michael gleich seinem Namenspatron wie auf Engelsschwingen gerettet aus dem lichterloh brennenden Haus, bevor er bei dem Versuch, auch ihre Eltern herauszuholen, mit ihnen zusammen von den herabstürzenden Dachbalken erschlagen worden war.
Tante Manuela, die verwitwete jüngere Schwester ihres Vaters, hatte sie auf Bitten des Jugendamtes zu sich genommen. In dem kleinen Ort im östlichen Teil des Harzes hatte sie ihren Zustand nicht lange geheim halten können und einige gehässige Bemerkungen ertragen müssen. Und nicht nur sie, denn Schande färbte offenbar ab. Ohne Micha und den Schutz eines Trauscheins im Schrank würde ihr uneheliches Kind nichts als Schimpf und Schande erfahren; das hatte Tante Manuela ihr unmissverständlich klar gemacht.
Wohl auch deshalb hatte die Tante den Besucher aus dem Westen empfangen, jenen entfernten Verwandten, der auf der westlichsten der ostfriesischen Inseln lebte. Bereits kurz nach der Wende hatte er per Brief Kontakt aufgenommen und war wenige Monate später sogar in der Bäckerei aufgetaucht.
Sie hatte ihn von Anfang an nicht gemocht. Er war ihr unheimlich gewesen. Im Nachhinein war sie sicher, dass sie bereits damals die Gefahr gespürt hatte, die von ihm ausging.
Als er an jenem Tag auf der Türschwelle stand, hatte die Tante ihn freundlich hereingebeten und Tee gemacht. Wenig später hatte sich die Wirklichkeit zu einem Alptraum verkrümmt.
Sie wusste nicht mehr, ob sie erst den erstickten Schrei der Tante gehört oder deren sich krümmenden Körper am Boden gesehen hatte. Aber sie erinnerte sich noch ganz genau daran, wie er die Tür zum Wohnzimmer geschlossen hatte und auf sie zugekommen war, ein breites Lächeln im Gesicht.
Danach war es dunkel geworden, und das nicht nur, weil sie die Besinnung verloren hatte. Da war ein seltsamer Geruch gewesen, erst süßlich, dann wie von Essig und Zitrone, aber künstlich wie ein Haushaltsreiniger.
Die