Túans Blick fiel auf seine beiden Unterarme, die von starken Muskeln und deutlich hervortretenden Adern überzogen waren. Mit plötzlicher Erkenntnis begriff er eine weitere Bedeutung der Muster, die ihm seine Mutter Rurayleigh vor scheinbar ewigen Zeiten eintätowiert hatte. Nicht nur die Symbole allein für sich enthielten eine Aussage, sondern die Anordnung folgte seinen Adern und Muskelsträngen. Zusammen bildeten sie eine Harmonie, welcher der Harmonie hier in diesem fremden Wald auf eine erschreckende Weise glich. Wie konnte seine Mutter damals das empfunden oder gewusst haben, was er hier als eine … magische Kraftquelle wahrnahm? Mit jedem Atemzug, mit jedem Herzschlag füllte sich sein Körper mit dieser Kraft, jeder Blick auf seine eigenen Zeichnungen offenbarte ihm neue Türen, hinter denen Geheimnisse lagen, die nur auf ihn zu warten schienen.
»Du fühlst es, Junge, nicht wahr?« Die Stimme klang alt, aber stark und Túan wirbelte herum, um die Quelle der Worte zu sehen. Doch als er sie fand, waren ihm selbst Worte unmöglich.
»Habe ich dich erschreckt?« Die Stimme gehörte zu einem Mann in einer ehemals weißen, nun arg verschmutzten Kutte.
»Nein«, antwortete Túan einsilbig und kämpfte innerlich gegen seine Sprachblockade.
Der alte Mann lächelte und ließ Túan Zeit, ihn genau zu betrachten. In wenigen Schritten Entfernung zu Túan – wie hatte er das nur geschafft? – stand ein uralter, grauhaariger Mann, der sich auf einen langen Stab stützte.
Túans kleiner Freund, der ihn womöglich hätte warnen können, schlief tief und fest in seiner Umhangfalte.
Der Mann musste mindestens sechseinhalb, eher schon sieben Fuß groß sein, in jedem Falle aber deutlich über dem normalen Maß eines Mannes, dachte Túan. Nur selten hatte Túan Krieger gesehen, die auch nur annähernd so groß waren wie der Alte. Im krassen Gegensatz dazu – zumindest empfand es Túan so – stand dessen Hagerkeit. Der verschlissene Mantel aus alter, weißer Schafswolle schlackerte an ihm herum wie an einer Vogelscheuche am Pfahl. Außer dem Stab schien der Alte nichts bei sich zu tragen, von einer brüchigen Kordel abgesehen, welche seine dürre Mitte umschlang. Die nur ansatzweise sichtbaren nackten Füße waren dreckig und versanken im weichen Moos des Waldbodens. Das Gesicht wurde durch zwei eisgraue Augen beherrscht, die eine unheimliche Kraft ausstrahlten, auch wenn die Haut darum – wie auch das gesamte Gesicht – wie Dutzende zerknitterte Blätter aussah. Die Nase des Alten war kerzengerade, mit kleinen, scheinbar belustigt sich bewegenden Flügeln. Seine Lippen öffneten sich nun zu einem schelmischen Grinsen, das überraschend weiße Zähne zeigte. Mit einer ruhigen Geste strich sich der Alte die Kapuze in den Nacken und braunes, von silbernen Fäden durchzogenes, schütteres Haar fiel in langen Strähnen herab.
»Mein Name ist Kennaigh …« Túan hatte den Eindruck, dass dies nicht der vollständige Name des Alten war.
»Ich bin das, was im Süden ein Weiser genannt wird.« Wieder lächelte Kennaigh verschmitzt. »Ich schlage vor, du begleitest mich zu meiner bescheidenen Behausung. Ich lade dich ein zu Speis und Trank, zu einem Ruhelager und … Frieden.«
Als wäre das sein Stichwort gewesen, schob der Wolfswelpe seine spitze Schnauze aus Túans Umhang und blickte ein wenig verschlafen auf den Alten.
Wieder hatte Túan das Gefühl, dass Kennaigh eigentlich etwas anderes hatte sagen wollen.
»Mein Name ist Túan. Ich habe wirklich etwas gespürt, schon vor dem Wald. Und seit ich ihn betreten habe …«
Kennaigh lächelte und wies mit dem Stab in eine Richtung. »Das ist der Grund, warum ich mich dir gezeigt habe. Und der Grund, warum ich dich einlade, bei mir zu leben … und zu lernen … wenn du willst.«
Kapitel VII
Skotenpack
A. D. 180, Mai
Die Gruppe, die durch den Wald hastete, bestand aus neun kräftigen Männern. Vor rund einer Stunde hatten sie die Sicherheit des Kastells – und unmittelbar darauf auch die des Hadrianwalles – hinter sich gelassen. Nicht dass sie viel darauf gegeben hätten, denn nach ihrer Meinung bedurfte es nur einer ausreichend starken Kriegsmacht, um den Wall zumindest an einer Stelle durchbrechen zu können. Aber sie wussten, dass die Caledonier und Picten sich nicht auf die Farbe von Scheiße einigen konnten, so zerstritten waren sie. Auch sie selbst, Söldner von der skotischen Nachbarinsel, hatten kein Interesse an brüderlichen oder friedlichen Beziehungen zu ihren britannischen Vettern.
Eirik, ihr Anführer, und seine acht Begleiter waren mehr gedungene Mörder denn bezahlte Söldner. Sie alle hatten die Macht Roms erlebt und sahen ihre einzige Überlebenschance darin, sich dem Stärkeren anzuschließen. Niemand von ihnen hatte auch nur einen Tag Hunger gelitten, seit er im Dienste Roms stand. Niemand musste fürchten, einen harten Winter nicht zu überleben. Stattdessen genossen sie die Annehmlichkeiten, die eine Großmacht bieten konnte. Freien Zugang zu Waffen und Lebensmitteln, Wein und Weibern. Als Gegenleistung erfüllten sie … Aufgaben. Alle in ihrer Gruppe hatten schon viele Männer gemordet, Frauen geschändet, und auch Kinder zählten zu ihren Opfern. In beiden Belangen.
Das Allerbeste war aber, dass sie dafür auch noch bezahlt wurden. Und die Römer zahlten gut. Jeder der Skoten trug einen wohl gefüllten Beutel Goldstücke mit sich und in ihren Unterkünften im Kastell lagen der Dinge mehr, die einem skrupellosen Mann zufielen, wenn er den Willen Roms zur Zufriedenheit ausführte.
Im Augenblick war Eiriks Trupp bestrebt, den Willen Roms, was hier in Britannia hieß: den Willen Magnus Lucius’, zu erfüllen. Der Praefectus Castrorum hatte sich in seinem Befehl an Centurio Trebius Servantus sehr vage und überaus vorsichtig ausgedrückt. Doch das wussten die Skoten selbstverständlich nicht. Sie hatten ihre Anweisungen vom Centurio bekommen, einem der engsten Vertrauten des Garnisonskommandeurs. Und seine Befehle hatten nichts an Deutlichkeit vermissen lassen.
Eirik schauderte, wenn er an den kantigen Centurio dachte. Nicht wegen dessen überwältigender körperlicher Präsenz, die einfachere Gemüter schon allein aufgrund ihrer Gewaltigkeit in die Knie gezwungen hatte. Auch nicht wegen dessen sprichwörtlicher Verschlagenheit und Geschick in taktischen Fragen, sondern wegen seines Gesichtes.
Genau in der Mitte der Stirn trug der Centurio ein Muttermal in Form eines Auges. Die Götter schienen sich einen Spaß daraus gemacht zu haben, dem ungewöhnlichen Mal im Zentrum auch noch eine beinahe kreisförmige und haarige Erhebung hinzuzufügen, was den Eindruck eines dritten Auges fast perfekt machte. Und dieses dritte Auge war es, das Eirik jedes Mal, wenn er es sah, Schauder über die Haut schickte.
In seiner skotischen Heimat gab es viele Legenden und Schauermärchen. Und als Krieger verhöhnte er all jene, die auch nur ein Wort davon glaubten. Doch die Geschichte, die ihm im Kindesalter von einer alten Vettel bei flackerndem Feuerschein erzählt worden war, hatte ihn damals viele Monde lang schweißgebadet aus Albträumen hochfahren lassen. Ein Mann, so hatte sie mit zittriger Stimme erzählt, so stark und gewaltig, dass andere allein bei seinem Anblick das Fürchten bekämen, wäre sein, Eiriks, Tod. Doch nicht durch Kampf mit ihm solle Eirik sterben, sondern durch die Worte, die dieser Mann an ihn richten würde.
Eiriks Entgegnung, dass es bei den Skoten, den Caledoniern, ja selbst bei den Römern viele Männer geben dürfte, auf die diese Beschreibung passte, veranlasste die Alte, ihm für lange Minuten wortlos in die Augen zu blicken.
Er selbst und alle seine Freunde, die mit ihm der Vettel zugehört hatten, konnten während dieser Zeit kein Wort des Unglaubens von sich geben. In Stille gebannt, hatten sie Eirik und die Alte beobachtet und beinahe körperlich den Blick gespürt, der die beiden miteinander verband. Endlich, nach langen Minuten des Starrens, hatte die Alte geblinzelt und sich noch näher zu ihm herunter gebeugt. Noch heute stieg ihm der unangenehme Geruch ihres Atems – eine Mischung aus Met und Zwiebeln – hoch, wenn er an die Szene dachte.
»Achte auf einen Mann mit drei Augen, Eirik«, hatte sie geflüstert, sodass nur