Ich bin frei!
Der Abstieg
Winfried wurde durch den Lärm heimfahrender Berufspendler geweckt. Es war später Nachmittag.
Auweia! - war der erste Gedanke in seinem brummenden Schädel - ich brauche erst mal einen Schluck Magenbitter gegen den Kater. Er leerte eines der Fläschchen in einem Zug, setzte sich auf die Bettkante und grübelte. Er geriet in Zorn, ärgerte sich über die Vergangenheit, über die Zukunft, die Dummheit der Menschen. Über alles, was ihm in den Sinn kam.
Ich muss mich entspannen und mir etwas Schönes vorstellen! Er versuchte, seinen Gedanken eine positive Richtung zu geben. Ein weißer Sandstrand in der Südsee, leises Rauschen des Meeres, wolkenloser Himmel und die helle Sonne, die mir auf den Bauch scheint. Mich wärmt. Hoch über mir schweben Möwen, die mit gleichmäßigen Flugbewegungen rhythmische Tänze aufführen. Er atmete tief durch und ließ seine Gedanken fortdriften. Sonne, Meer, Wellen. Glasklares Wasser, das sanft über feinkörnigen Sand rauscht, innehält, sich wieder zurückzieht. Sein Blick wanderte zu den Sanddünen, über die der leichte Wind einzelne Sandkörner fegte. Zum Meer. Von der Wonne dieses Augenblicks angenehm beseelt, spazierte er durch den sonnengewärmten Sand zum azurblauen Wasser und fühlte, wie leichte Wellen seine Füße umschmeichelten. Sein Blick in die Ferne gerichtet, wanderten seine Gedanken über das Wasser, zum Horizont, darüber hinaus.
Winzige Fische flitzten vorbei. Er schluckte Wasser, konnte nicht atmen. Ein Arm legte sich um seinen Hals, jemand nahm ihn in den Schwitzkasten und drückte ihn unter Wasser! Verzweifelt suchten seine Hände nach Halt und griffen ins Leere. Hilfe! Sein Schrei blieb stumm, Wasser drang in seine Lungen. Hilfe! – hörte er sich blubbern, verzweifelt schlug er um sich und trat mit den Füßen. Wo ist mein Gegner? – er versuchte, ein Ziel zu finden, ließ seinen Ellbogen nach hinten schnellen. Und traf. Ein dumpfes Platsch! Etwas fiel ins Wasser. Seine Füße fanden Halt, hastig durchbrach er mit dem Kopf die Wasseroberfläche, schnappte nach Luft, hustete. Auf dem Wasser trieb ein regloser Körper, bewusstlos, mit dem Kopf nach unten. Er griff danach, drehte ihn um und erkannte ein Gesicht. Ist es eine Fliege?! Nein! Es war sein Ex-Chef, der sich wieder in seine Gedanken gedrängt hatte.
Den ohnmächtigen Gegner grub er im Sand so tief ein, dass nur dessen Kopf herausschaute, den Blick zum Meer gewandt. Dessen Bewusstsein kehrte zurück und von seiner unvorteilhaften Position beobachtete dieser nun, wie die Flut einsetzte, das Wasser anstieg und - so stellte Winfried sich das vor - nun verzweifelt winselte: »Befrei' mich doch!«, während sein Kopf langsam in den Fluten versank.
Einen Moment verschaffte ihm diese Phantasie Befriedigung. Doch fiel er zurück in seine depressive Stimmung.
In wachem Zustand hielt er es nie lange zu Hause aus. Ständig spielten sich Gewaltphantasien in seinem Kopf ab, von denen er sich ablenken musste. Er sehnte sich nach dem Märchenland, das immer eine beruhigende Wirkung auf ihn hatte. Zeit, mich auf den Weg zu machen. Vielleicht, dachte er, habe ich heute Glück.
Als er bei der Spielothek ankam, hellte sich seine Stimmung auf. Der Platz vor seinem Lieblingsautomaten war noch frei. ›Märchenland‹ flimmerten fröhliche Buchstaben und lockten zum Spiel. Gut gelaunt fütterte er den Automaten mit Münzen und beobachtete die bunten, rotierenden Zylinder des Spielautomaten: Zocken … ich habe meinen Beruf zum Hobby gemacht, dachte er und drückte auf ›Stopp‹. Die Bilder bewegten sich langsamer und blieben stehen: 1x Oma, 2x Wolf, 2x Jäger. Nichts gewonnen, nächstes Spiel, nochmal Rotkäppchen und der böse Wolf. Eine Stunde verging, ohne dass er einen Gewinn einstrich. Es folgte Niete auf Niete, bis die Bilder abermals in ihrer Bewegung innehielten: 2x Rotkäppchen, 3x Wolf. Der erste Gewinn, sein Einsatz wurde gutgeschrieben. Schön! So sollte es bei jedem Spiel laufen. Aber darum kümmere ich mich noch. Erstmal eine Belohnung. Zeit für ein Bier.
Er ging zum Tresen, an dem schon ein Bekannter von ihm saß, den er freundlich begrüßte. »Hallo Doktor!« Es war der promovierte Mathematiker Dr. Weingarten.
»Hallo Winfried! Schön, dich wiederzusehen. Übrigens, könntest du mir heute etwas Geld borgen? Nur wenig, vielleicht 50 Euro?«, bettelte er. »Ich habe eine neue Strategie entwickelt. Diesmal bin ich sicher. Heute kann ich den Automaten knacken!«
»Nein!«, seufzte Winfried und schüttelte den Kopf, »das ist mein letztes Wort. Ich habe dir schon über 500 Euro geliehen. Jedes Mal musste ich mir anhören: diesmal, endlich, klappt es mit dem großen Gewinn. Mit einer neuen Strategie. Immer warst du am Ende pleite.«
»Nur noch ein einziges Mal! Diesmal bin ich ganz sicher!«, sprach er hektisch, »es ist die Chance meines Lebens. So sicher wie der Tod!« Er fiel in einen herzzerreißenden Heulkrampf.
»Beruhige dich doch, Doktor«, redete Winfried beruhigend auf ihn ein, tätschelte ihm den Rücken und ließ sich erweichen. »Ok, weil du es bist. Aber nur zehn Euro. Ausnahmsweise. Und teile dir das Geld gut ein!« Er zückte einen Geldschein.
Freudestrahlend riss Dr. Weingarten ihm den Schein aus der Hand, eilte zum Wechselautomaten und saß kurz darauf vor seinem Automaten. Buchstaben leuchteten darauf: ›Die lustigen Schlümpfe‹.
Winfried beobachtete seinen ehemaligen Kollegen, der wie besessen eine Runde nach der anderen spielte. Von den 10 Euro war mittlerweile nur noch die Hälfte verblieben, schnell schrumpfte es auf 4, 3 und schließlich 2 Euro. Den Blick starr auf den Automaten gerichtet, drückte der promovierte Mathematiker ›Neues Spiel‹ und die Zylinder begannen zu rotieren. Die Bilder rauschten vorbei, wurden langsamer und blieben stehen: 2x Erfinderschlumpf, 3x Überraschungsschlumpf. Das Feld ›Risiko‹ blinkte. Der Doktor wählte den Knopf ›Einsatz erhöhen‹ und das nächste Spiel begann. Bilder rotierten und das Guthaben schrumpfte auf wenige Cent.
Winfried versuchte den besessenen Spieler von seinem Wahn abzubringen. »Doktor, du musst einen Zeitpunkt finden, an dem du aufhören kannst!« Der Angesprochene zeigte jedoch keine Reaktion, sein starrer Blick war auf die vorbeifliegenden Bilder fixiert. Abermals drückte er ›Stopp‹ und die Zylinder rotierten langsamer. Als sie zum Stillstand kamen, zeigten sie fünf blau-rote Figuren. Eine Sirene heulte, das Display fing wild an zu blinken und große Buchstaben verkündeten: ›Jackpot! 17855 Euro gewonnen!‹
Wie paralysiert saß der promovierte Mathematiker vor dem Automaten. Seine Augen weiteten sich. Langsam löste er sich aus der Erstarrung, raufte die Haare und schrie: »Jackpot! Ich fasse es nicht! Fünfmal Papa Schlumpf!« Er kippte seitlich, fiel vom Sitz und blieb reglos am Boden liegen.
Eine Viertelstunde später waren zwei Sanitäter bei ihm sowie ein Notarzt, der Wiederbelebungsmaßnahmen durchführte.
Der Arzt räusperte sich. Traurig verkündete er den Anwesenden: »Es tut mir leid. Der ist endgültig hinüber. Das war wohl zu viel für ihn« und fragte, zur Angestellten an der Kasse gewandt: »Passiert so etwas öfter?«
»Nein«, entgegnete sie, »es ist auch das erste Mal, dass jemand den Jackpot geknackt hat.«
»Das muss Ihnen nicht leid tun«, mischte Winfried sich ein, »das war das erste Mal in seinem Leben, dass er Glück hatte.«
Der Arzt blickte ihn entrüstet an. Sein Ärger verflog jedoch, als er den am Boden liegenden Dr. Weingarten und seinen glücklichen Gesichtsausdruck betrachtete. »Vielleicht«, sagte er nickend, »ist er tatsächlich im richtigen Moment gegangen.«
Ein Flyer, der in der Spielothek auslag, weckte Winfrieds Neugier. »Was kommt nach dem Tod?«, prangte darauf in großen Buchstaben. Eine Frage, die er sich mittlerweile häufiger stellte. Er griff nach einem der Faltzettel, die für ein viertägiges Rückführungsseminar warben und las Kurzberichte von Kursteilnehmern, die über ihre früheren Leben berichten.