Was erwartete uns hier, fragte sich Sophie sofort und schaute Onta an, die sich ein Lachen kaum verkneifen konnte. Andere weibliche Lehrerinnen kamen zwar nicht gerade wie die Waldschrate daher, aber so perfekt rausgeputzt war bisher keine gewesen. „So Mädchen, dann setzt euch bitte zu mir“, forderte Madame Fine die Schülerinnen auf. Langsam legten sie ihre Taschen ab, eine nach der anderen und suchten sich einen Platz in der Sitzgruppe. Natalia ließ sich elegant auf dem Stuhl links von der Lehrerin nieder. Ines, ihre glühende Anhängerin neben sie. Onta hechtete fast schon zu dem Sofa, das am weitesten entfernt war. Alle fünf fanden darauf leider keinen Platz. Alba und Lulu setzten sich auf die Sessel daneben. Das Sofa hatte auf den ersten Blick gemütlich ausgesehen, doch wenn man saß, merkte man, wie hart es tatsächlich war. Sophie versuchte, in eine bequeme Position zu rutschen. Sie schaute sich verstohlen um. Natalia, Lulu und Alba waren, neben der Lehrerin, die einzigen die unbeeindruckt auf ihren Sesseln saßen. Alle anderen: Beatrice, Ines, Claudia und das Gotikmädchen Josi schauten verunsichert von ihren Plätzen auf Madame. „So, nachdem ihr alle Platz gefunden habt, möchte ich mich und mein Fach kurz vorstellen", kündigte Madame Fine an. Alle Augenpaare blickten sie an. „Ich wurde eingestellt, um euch auf das Leben außerhalb der Schule vorzubereiten. Bei mir werdet ihr Etikette und Stil lernen. Das heißt: Richtig gehen, sitzen …“, sie blickte sie kurz um und fuhr mit einem leisen Seufzer fort. „ … sich zu unterhalten, bei Tisch gesittet zu essen, Briefe zu schreiben, sich zu kleiden und zu schminken.“ Auwei, schoss es Sophie durch den Kopf. Sie blickte sich um. Ontas Gesicht schien kurz davor zu entgleisen, während Suki nur noch große Augen machten. Allein Natalia sah selbstzufrieden aus, während Lulus Stirn leicht gerunzelt war. „Madame Fine, warum?“, fragte Josi und senkte ihre gehobene Hand. Mit einem langen Blick bedachte sie die Lehrerin. „Weil die Friedrich-Stein-Schule Wert darauf legt, dass alle Schüler sich außerhalb der Schule präsentieren können, unabhängig von ihrer Herkunft", erklärte sie mit sanfter Stimme. „Jede Absolventin der Friedrich-Stein-Schule ist ein Aushängeschild der Schule.“
Josi verdrehte die Augen und Onta tuschelte leise: „Fehlt nur noch, dass die hier Schuluniformen einführen.“ Sophie sah, wie Madame Fines Blick langsam Richtung Onta wanderte. „Tja, wie ich sehe, habe ich auch dieses Schuljahr viel zu tun. Ich möchte euch daran erinnern, dass mein Fach auch ein Prüfungsfach ist, das als Hauptfach bewertet wird.“ Ein Stöhnen ging durch den Raum.
„Die hat Spaß, dabei uns zu triezen“, zischte Onta, nachdem sie aus der Obhut von Madame Fine entlassen waren. Sophie nickte zustimmenden, während Natalia beschwingten Schrittes an ihnen vorbeizog. „Endlich mal ein Fach, das bewältigbar ist“, meinte Lulu beim hinuntergehen. Onta und Sophie schauten sich an. „Tatsächlich“, flötete Onta und grinste Lulu frech an. Sie kabbelten sich bis in der Sporthalle ankamen.
„Warum sind die Jungs hier?“, fragte Suki entsetzt. Stimmt, da auf der anderen Seite der Turnhalle standen sie – die Jungen ihrer Stufe. „Weiß nicht, aber schau Herr Wagener ist auch hier“, erwiderte Sophie leise und deutete dezent auf das Sportlehrerehepaar. „Und wie die beiden grinsen, direkt unheimlich“, kommentierte Alba von der Seite. „Meine Damen, meine Herren“, begrüßte sie Herr Wagener mit lauter Stimme, um das Stimmengemurmel zu überdecken. „Dieses Schuljahr werden wir einmal die Woche gemeinsam den Sportunterricht verbringen“, ergänzte Frau Wagener und lächelte ihren Mann an. Dieser nahm sie am Arm und führte sie schwungvoll in die Mitte der Sporthalle. „Dieses Jahr lernt ihr alle tanzen“, verkündeten sie strahlend gemeinsam. „Was! Tanzen?“, ertönte es von allen Seiten gleichzeitig. Noch ein Albtraum, schoss es Sophie durch den Kopf. Doch es half nichts: Fünf Minuten später standen die Mädchen auf der rechten Seite der Turnhalle und die Jungs auf der linken und machten Trockenübungen, wie das Lehrerpaar die Schrittfolge nannte. Eins, zwei, drei und bloß nicht über die Füße stolpern. Nun ja, mit Turnschuhen war es ein bisschen schwierig, über den Boden zu gleiten. Sophie brach der Schweiß aus. Auf Sukis Wangen bildeten sich hektische rote Flecken und einzig Lulu und Alba schienen in ihrem Element zu sein. Gut, Alba hatte Ballett als Sportschwerpunkt, doch trotzdem ärgerte sich Sophie wie leichtfüßig Alba die Schrittfolge nachmachte. „So und nun zum Abschluss mit einem Partner“, rief Frau Wagener. Sophie merkte, wie ihre Füße zitterten und ihre Hände schweißnass waren, als sich alle in einer Reihe aufstellten sollten. Plötzlich fiel ein Schwall schwarzer Haare an ihr vorbei. „Suki!“, schrie Onta und Sophie gleichzeitig und eilten zu ihrer Freundin.
„Was hat sie?“, hörte Sophie Natalia gut hörbar zu Ines wispern. „Zur Seite Mädchen“, sprach Frau Wagener ruhig und lehnte sich über Suki, die bereits wieder die Augen aufmachte. Gemeinsam mit Onta brachte Sophie Suki zu den Bänken. Sie sah so blass aus, fand Sophie. „Geht schon wieder“, murmelte Suki immer wieder, wobei ihr Gesicht kalkweiß war. „Kreislaufschwäche“, meinte der Haussanitäter, der hinzugezogen war, wenige Minuten später. Sophie und Onta standen bei Suki während, die Sportstunde fortgesetzt wurde. „Das nächste Mal solltet ihr Tanzschuhe dabei haben“, baten sie die Sportlehrer zum Abschluss. Später in der Umkleidekabine grinste Onta verschlagen und flüsterte leise zu Sophie: „Und wer von uns wird das nächste Mal ohnmächtig?“ Alba und Sophie knufften Onta gleichzeitig in die Arme. „Aua“, quiekte sie empört und rieb sich den Arm. „Ich hab das doch nicht mit Absicht gemacht“, murmelte Suki und schaute Onta ernst an. „Ich weiß“, versuchte das rothaarige Mädchen zu beschwichtigen. „Du musst mehr trinken, hat der Sanitäter gesagt. Also sorgen wir dafür, dass du mehr trinkst“, sagte Onta mitfühlend zu Suki. „Und so schlimm ist tanzen, doch gar nicht“, meinte Lulu beim hinausgehen. „Stimmt die Jungs waren genauso nervös wie wir auch“, ergänzte Alba und hakte sich bei Lulu unter.
„Sag mal Tante Hummel“, fragte Onta ihre Tante in der Küche des Zuckerstückchens am Abend. „Hast du Post von der Schule bekommen?“ Frau Hummel hob den Kopf, dachte kurz nach, schaute in Richtung des Neubaus und murmelte: „Warte mal, bei Aimees Post war vor einiger Zeit etwas von der Schule dabei.“ Schnell wie der Blitz sauste Onta aus der herrlich nach Karamell, Nüssen und Schokolade duftenden Küche zum Neubau. Wie eine unfertige Papierlaterne leuchtete das Licht durch die Zimmer von Aimees und Richards neuem Zuhause. Onta stieg vorsichtig durch das Wohnzimmerfenster in das Haus und rief laut: „Aimee! Aimee!“ Als sie ihre schwesterliche Stimme hörte: „Verdammt Onta!“ Onta folgte der lieblich fluchenden Stimme.
Sie waren im Kinderzimmer: Aimee und Richard, farbverspritzt mit grünen und gelben Sprengseln im Gesicht. Onta konnte sich sie Frage, mit Blick auf den Bauch, nicht verkneifen: „Was wird es denn?“ Aimee schaute ihre kleine Schwester verschwörerischer an und antwortete lachend: „Das wirst du sehen, wenn es geboren ist.“ Richard drehte sich um und begrüßte seine kleine Schwägerin herzlich. „Na, wie war dein erster Schultag?“, neckte er sie. Onta seufzte hörbar, zog die Schultern hoch und ließ sie wieder fallen. „Oh, so schlimm", kommentierte Richard ihr Minenspiel und lachte Aimee zu, als er sie ihn seinen Arm zog und sanft küsste. Onta schaute schnell weg. Himmel, diese Erwachsenen, dachte sie und verdrehte die Augen. „Sagt mal“, unterbrach sie die beiden Turteltäubchen. „Habt ihr Post von der Schule bekommen?“ Aimee schaute sie verdutzt an. „Schatz haben wir Post von der Schule bekommen?“, säuselte Aimee in Richtung ihres Gatten. „Oho, vielleicht und wenn ist er in dem großen Poststapel im Arbeitszimmer“, gab er zurück und schaute die beiden zerknirscht an. „In Ordnung, komm Onta lass uns mal suchen“, sagte Aimee und schnappte sich die Hand ihrer Schwester. Zwei Zimmer und eine Treppe weiter, standen sie in einem kahlen Raum, in dem nur ein Tisch und ein Stuhl standen. Und auf dem Tisch lagen sie: die Briefe, aufgeschichtete zu einem kleinen Berg. Neugierig lehnte sich Onta über die Schulter ihrer Schwester, die mit beiden Händen die Briefe hochnahm, den Absender las und weglegte. „Was sind das alles für Briefe?“, fragte Onta. „Och, Glückwunschkarten zur Hochzeit, Rechnungen und ähnliches“, meinte Aimee lapidar. Plötzlich hellte sich ihr Gesicht auf. „Ah, da!“ und hielt Onta einen schweren cremefarbenen Brief unter die Nase. „Mach auf, mach auf, mach auf“, bettelte Onta. Aimee grinste ihre kleine Schwester an und öffnete ganz langsam den Brief.
Während sie ihn las, runzelte sie immer mehr ihre Stirn und fing plötzlich an zu lachen, so stark, dass ihr die Tränen aus den Augen schossen. Angezogen vom lauten