»Hallo, Finn, mein Süßer. Wie geht’s dir?«
Der Knirps zuckte mit den Schultern und schaute an ihr vorbei zum Bett. »Wow, die Bettwäsche ist total super. Wer sind die beiden Taucher am Wrack? Dr Talcott und Sie?«
»Ja, Nick und ich.«
»Voll cool, das Foto.« Finn zog den Mundwinkel hoch, als wollte er sagen: Voll cool, solche Eltern.
Seit seine Mom Jolies kunterbuntes Krankenzimmer samt Fototapete an der Wand gesehen hatte, schlief Finn in The-Dark-Knight-Kinderbettwäsche, die sie noch am selben Tag online bestellt hatte. Aber in gekaufter Bettwäsche, egal wie teuer, kuschelte es sich nicht halb so gut wie in von Mommy selbst designten Bezügen. Für Kinder waren zum Glück andere Werte wichtig.
»Danke, Finn.«
»Wo ist denn Jolie?«
»Keine Ahnung.«
»Weil, ich will sie abholen.«
»Wollt ihr zusammen spielen?«
Jolie und Finn waren befreundet, und sie unternahmen viel gemeinsam. Vor einigen Tagen musste Finns Teddy zur Desinfektion in die Waschmaschine. Seite an Seite hatten die beiden durch die Ladeluke den Teddy beobachtet, der blubbernd in der Trommel herumwirbelte. Nach dem Trocknen wurde der nach Weichspüler duftende Plüschbär gemeinsam durchgekuschelt.
Finn schüttelte den Kopf. »Wir wollen zu Nell.«
Cassie betrachtete sein Superhelden-Outfit. »Hat Nell heute Geburtstag?«
»Nein, Ma’am. Sie ist gestern Abend gestorben.«
Sie musste schlucken. »Oh, Finn. Das ... tut mir leid.«
Die Kinder, die auf dieser Station der Kinderkrebszentrum des UCSF Medical Center in San Francisco lebten, die Tapferen und die Furchtsamen, die Unbezähmbaren und die Sanften mussten erfahren, dass plötzlich einer von ihnen fehlte. Nell, die so alt war wie Jolie, würde nie mehr zum Spielen kommen.
Nell war Jolies beste Freundin. Gemeinsam wollten sie beherzt ihren Traum verwirklichen: in die Schule zu gehen wie alle anderen Kinder.
Wie oft hatte Nell, die kleine zarte Nell, ihr Mut gemacht, wenn Cassie wieder einmal glaubte, eine schlechte Mommy zu sein, weil ihr Job sie zu sehr in Anspruch nahm, die Tauchexpeditionen in aller Welt und die Vortragsreisen für die UNESCO. Wie oft hatte die Kleine ihr geholfen, die Welt durch die Augen ihres Kindes zu sehen. Wie oft hatte sie ihr gesagt, was Jolie jetzt brauchte. Jetzt. Nicht irgendwann, sondern jetzt.
Jolie brauchte Geborgenheit und Liebe. Wenn es ihr schlecht ging, lag Cassie neben ihr auf dem Bett, hielt sie fest in ihren Armen und kuschelte mit ihr. Es erstaunte Cassie immer wieder, wie viel Schmerz und Leid Jolie ertragen konnte. Und wie viel innere Stärke sie hatte. Wenn es ihr gut ging, las Cassie ihr vor oder schaute mit ihr auf ihrem Tablet Videos über bedrohte Tierarten wie Tiger, Eisbären und Delfine auf worldwildlife.org an.
Aber Jolie brauchte auch das ernste und aufrichtige Gespräch, die Möglichkeit, beim Malen oder Spielen mit ihrer Mommy alles auszusprechen, was sie beschäftigte, ihre Ängste, ihre Hoffnungslosigkeit, ihre Trauer, und alle ihre Kinderfragen: »Mommy, was passiert, wenn ich sterbe? Wie ist die Welt ohne mich?«
Die Sonne weint, Jolie, die Blumen lassen traurig ihre Köpfe hängen, die Schmetterlinge hocken gelähmt vor Trauer neben ihnen, und die Vögel in den Zweigen schweigen traurig und verzweifelt.
»Werde ich über den Regenbogen fliegen?«
Ganz hoch, Jolie, höher und immer höher!
»Und über die Wolken tanzen?«
Lachend vor Vergnügen, Jolie, wie alles, was du mit ganzem Herzen tust! Mit ausgebreiteten Armen wirst du über die Wolken flitzen, um die bunten Luftballons mit den Grußkärtchen zu erhaschen, die ich dir schicken werde!
Tot sein bedeutete für Jolie fortgehen und eines Tages wiederkommen. Sie war noch zu klein, um zu begreifen, dass es im Leben etwas gab, das unwiderruflich und endgültig war.
So wie Alex’ Fortgehen, als er mich verließ, dachte Cassie traurig. Jolie hofft, dass er irgendwann zu ihr ... zu uns zurückkehrt.
So wie Nells Sterben. Wie wird Jolie damit umgehen?
Wo steckte sie überhaupt? Seit einigen Tagen war Jolie in Remission – viele ihrer Krankheitssymptome waren verschwunden. Das Blutbild und das Knochenmark mussten jedoch regelmäßig weiter überwacht werden, um die Therapieschritte nach der Chemo zu planen. Vielleicht hockte sie gerade im Labor und wurde gepikst? Ach nein, das Blutbild sollte doch gestern noch gemacht werden. Das hatte Dr Mayfield gesagt, als Cassie die Ärztin vor dem Aufzug getroffen hatte.
Finn packte seinen Teddy fester, schob sein Batmobil auf den Gang, ließ die Tür hinter sich zufallen, und Cassie war wieder allein. Allein mit ihren Gedanken, wie viel Lebensmut sie hatte, wie viel Zuversicht, wie viel Hoffnung, und wie lebendig sie sich fühlte inmitten dieser lebhaften, quirligen Kinderschar.
An Jolies Infusionsständer neben ihrem Bett hing ein Playmobil in Jeans und Shirt an einem Fallschirm, den die Kleine aus einem grünen Mundschutz gebastelt hatte.
Dr Alex Lacey.
Alex.
Daddy.
Mit der Figur setzte Cassie sich aufs Bett und spannte den Fallschirm auf. Beim Skydiving hatten Alex und sie sich im August 2002 kennengelernt.
Zehn Jahre würde ihre Ehe halten, wenn sie unterschrieb. Mit dem Daumen berührte Cassie den Ring an ihrem Finger. Sie hatte ihn nie abgenommen ...
Moab, Utah, im Land der Red Rock Canyons. Ein heißer Tag am Colorado River. Ein Fallschirmsprung bei Sonnenuntergang über dem Canyonlands Nationalpark.
Cassie war früh dran für den letzten Flug des Tages. Als sie mit dem Mietwagen über den Parkplatz knirschte, sah sie Alex gleich. Sie stieg aus und beobachtete ihn vom weitem.
Ja, das war der Kerl, den sie gestern auf seinem Bike in den Schluchten von Canyonlands beobachtet hatte. Er führte ein kleines Mädchen auf einem ungesattelten Pferd über die Weide neben der Startbahn. Die Kleine sah aus, als hätte auch sie sich in den Kerl in Jeans, Shirt und Stetson verguckt. Ziemlich sexy, ein bisschen wie Robert Redford in Der Pferdeflüsterer. Nur viel jünger. Ende zwanzig.
Das Kind auf dem Pferderücken konnte vor lauter Begeisterung nicht still sitzen. Und wie das Gesicht der Kleinen strahlte! Ohne Punkt und Komma quasselte sie auf den Cowboy ein, während Mommy und Daddy am Zaun lehnten und Fotos machten.
Als er schließlich die Arme ausstreckte, um der Kleinen vom Pferd zu helfen, spürte Cassie ein sehnsüchtiges Ziehen in der Brust. Und als er zum Office von Skydive hinüberschlenderte und sich breitbeinig auf den Stufen niederließ, wusste sie, sie würden zusammen springen.
Was hatte sie für eine Angst! War sie denn völlig bescheuert, aus einem Flugzeug zu springen?
Cassie hatte noch kein Ticket. Eine Weile drückte sie sich auf dem Parkplatz herum, um sich selbst Mut zu machen. Er beobachtete sie dabei, und sein Grinsen machte sie richtig wütend. Sie tat so, als könnte sie es gar nicht erwarten in die Luft zu gehen, aber das Arsch feixte nur noch breiter. Sie war auf Hundertfünfundneunzig, als sie schließlich an ihm vorbei zum Ticketschalter ging. Na klar, der letzte Flug war natürlich ausgebucht – online über die Website, seit gestern schon. Verdammt!
Als Cassie sich umdrehte, lungerte er hinter ihr herum und drehte den Ständer