„Macht nichts, Kumpel, du bist nicht der Erste“, dröhnte es fröhlich neben mir, und der Taxifahrer knallte die Tür zu. Bevor er den Motor anließ, musterte er mich wie einen Schüler und fragte besorgt:
„Hast du alles eingepackt, nichts vergessen?“
„Ich habe alles eingepackt, was ich brauche“, sagte ich mit gespielter Ruhe. Die Sorge, mit der zuerst Kassiererinnen am Bahnhof und nun ein Taxifahrer mein Leben zu umhüllen suchten, schien mir übertrieben.
„Sei mir nicht böse, ich habe einfach so gefragt – vielleicht hattest du einen schlechten Tag und hast etwas vergessen. Wenn du nichts vergessen hast, ist das doch prima.“
Das Auto fuhr los in Richtung Bahnhof. Ich merkte, dass der Taxifahrer zum Plaudern aufgelegt war, es aber nicht wagte, das zwischen uns entstandene Gleichgewicht zu zerstören. Schließlich konnte er sich aber doch nicht mehr zurückhalten:
„Sag mir, warum ist das Leben so ungerecht: Blinde dürfen am Steuer sitzen, Taube aber nicht?“
„Was heißt hier, Blinde dürfen?!“ Ich war dermaßen verwundert, dass ich seine laute Stimme außer Acht ließ.
„Ganz einfach. Guck doch in der Straßenverkehrsordnung nach: Wenn du dir Räder, ich meine Gläser, auf die Nase setzt, auch die dicksten, kannst du in alle Himmelsrichtungen aufbrechen. Wenn du aber den Hörtest nicht bestanden hast – fertig, leg deinen Lappen hin! Wo bleibt da die Gerechtigkeit? Ein Kollege von mir kann ohne Brille gar nichts sehen, ich musste ihn nach Hause bringen, als seine Brille kaputtgegangen war, aber den Führerschein will man mir entziehen – angeblich höre ich schlecht.“
„Was soll ich da sagen ...“
„Nun, sag doch, Kumpel, würdest du mit mir fahren, wenn ich dich mit dem Fahrrad zum Bahnhof bringen würde? Fahrradfahrer brauchen ja keinen Führerschein.“
„Ich weiß es nicht.“
„Keiner weiß es. Ich habe auch gar kein Fahrrad … Wir sind da. Steig aus.“
Ich bezahlte, nahm meinen Koffer, setzte mich in Bewegung und hörte plötzlich im Rücken:
„Pass auf, verspäte dich nicht, sonst gibt es Ärger.“
„Ich verspäte mich nicht, ich habe noch dreißig Minuten Zeit“, beruhigte ich ihn und hob zum Abschied die Hand.
Als ich das Bahnhofsgebäude betrat, ging ich zu der Informationstafel, um in Erfahrung zu bringen, auf welchem Gleis mein Zug stehen würde. Ich fand die Zeile „Iwanowo – Swiburg: Gleis 6“ und warf einen Blick auf die Uhr: Bis zur Abfahrt blieben noch fünfundzwanzig Minuten Zeit. In diesem Moment sah ich plötzlich die Kassiererin Tanja von heute Morgen, die am Nachmittag so unerwartet verschwunden war. Ich winkte ihr zu. Sie interpretierte meine Geste als Einladung zu einem Gespräch und ging auf mich zu. Seltsam, ich konnte keine Zeichen von Schwangerschaft bei ihr feststellen.
„Es wurde mir gesagt, dass Sie in den Schwangerschaftsurlaub gegangen sind“, sagte ich nach der Begrüßung.
„Genau dahin gehe ich gerade“, behauptete sie und blickte mich fröhlich an. „Morgen werde ich wohl ankommen. Und Sie, gehen Sie auf Ihre Dienstreise?“
„Ja.“
„Und warum nicht über Warschau? Im Zug kann man gut nachdenken und schreiben. Sind Sie doch Schriftsteller?“
„Nein, ich bin Journalist. Es wurde mir keine Genehmigung erteilt, über Warschau zu reisen“, schwindelte ich.
„Sie haben aber gar nicht gefragt. Warum müssen Männer andauernd lügen? Man kann mich betrügen, sich selbst aber doch nicht.“
„Ich habe wenig Zeit, ich muss einen umfangreichen Artikel abliefern, und dazwischen kommt dieser Auftrag“, versuchte ich ihr zu erklären.
„Ach, Sie Ärmster, immer bei der Arbeit! Man hat gar keine Zeit, an sich selbst zu denken.“ Tanja sah mich voller Mitgefühl an. „So rinnt Ihnen das ganze Leben durch die Finger, und im Sterben stellen Sie dann fest, dass Sie überhaupt noch nicht gelebt haben.“
„Tanja, entschuldigen Sie, ich muss jetzt zu meinem Zug gehen. Auf Wiedersehen“, unterbrach ich das Gespräch, das erneut eine seltsame Wendung zu nehmen drohte.
„Leben Sie wohl, Oleg. Seien Sie glücklich und seien Sie aufmerksam, um das Wichtigste im Leben nicht zu verpassen.“
Ich drehte mich um und ging zu meinem Bahnsteig. Dabei fiel mein Blick auf die riesige Bahnhofsuhr, die über meinem Kopf hing. Mit Entsetzten sah ich, dass mein Zug in zwei Minuten abfahren würde.
„Wir haben doch höchstens drei Minuten geplaudert, geht etwa meine Uhr wieder nach?“ überlegte ich fieberhaft, während ich aus dem Bahnhofsgebäude eilte. Gleis 6 war nur über eine Brücke zu erreichen. Ich flog die Treppe hoch und rannte an den vorbeisausenden Schildern vorbei: Gleis 2, Gleis 4, 9, 8, 10. Bei 12 bremste ich ab: Es gab keine weiteren Gleise.
„Wo ist denn mein Zug?“, sagte ich laut und sah in diesem Augenblick einen Mann in Eisenbahnuniform mir entgegenschreiten. „Sagen Sie mir bitte, wo ist hier Gleis 6?“, fragte ich ihn atemlos.
„Wo soll das sein, an seinem Platz natürlich. Sie sind vorbeigelaufen und haben es in der Eile nicht bemerkt. Da steht es doch unter der 9 geschrieben, dass es Gleis 6 ist, das Schild kippt bloß immer um und aus der 6 wird eine 9. Wir haben schon ein Pappschild und danach ein Holzbrett mit unserem Hinweis angebracht, haben es sogar angenagelt, aber keiner liest das Kleingeschriebene, und so tappt man daneben. Aufmerksamkeit ist das höchste Gebot. Wenn man aufmerksam ist, gelingt einem das Leben, dann verliert und verpasst man nichts.“
Der Bahnbeamte redete weiter, während ich mich umdrehte und eilig zu besagtem Gleis lief. Seine Worte flogen mir nach und hallten in meinem Kopf: „Keiner liest das Kleingedruckte … Aufmerksamkeit ist das höchste Gebot … das höchste Gebot …“
Die Angst, dass ich zu spät kommen würde, packte mich an der Kehle. Plötzlich fühlte ich mich, als gehe mein ganzes vergangenes Leben abrupt zu Ende, ohne angefangen zu haben, als hätte ich etwas Wichtiges, das Wichtigste, verpasst, etwas, was auf keinen Fall verpasst werden durfte. Am Gleis angekommen, sah ich meinen Zug soeben losfahren und langsam – wie gegen seinen Willen – die Geschwindigkeit erhöhen. Die hell beleuchteten Fenster glitten an mir vorbei, hinter denen ich Gesichter fröhlicher Menschen sah, Menschen, die rechtzeitig den richtigen Weg und das richtige Gleis gefunden hatten und nun in ihrem Waggon auf dem richtigen, nur für sie bestimmten Platz saßen. Sie wussten alle, wohin und wozu sie fuhren, wann und wo sie ankommen würden. In ihren Koffern lagen, akkurat gestapelt, Sachen, die sie sorgfältig vor der Fahrt ausgewählt hatten. Sie freuten sich darüber, ihre Reise so gut vorbereitet, auf die kleinsten Details geachtet zu haben, die eben dazu führten, dass sie ihren Platz im Zug hatten einnehmen können. Diejenigen aber, die draußen standen, konnten dieses Fest des richtig gewählten Weges nur beobachten und mussten dabei begreifen, dass sie diesen Zug für immer verpasst hatten, dass er weder aufgehalten noch angehalten werden konnte.
Die Fahrkarte, die in meiner Innentasche lag, verursachte plötzlich ein kratzendes, brennendes Gefühl. „Was ist da los?“, dachte ich müde und versuchte, das störende Etwas aus der Tasche zu holen. Als ich meine Faust öffnete, sah ich in meiner Hand eine kleine niedliche Meise sitzen. Sie sah mich an, ohne zu blinzeln und ohne jegliche Angst. „Flieg!“, rief ich und warf den Vogel hoch. In diesem Augenblick zog sich mein Herz zusammen, es sprang hoch und stürzte nach unten, einen Schmerz auslösend, als werfe ich mit diesem lebendigen Klümpchen einen Teil meines besseren, noch nicht gelebten Lebens von mir. Als der kleine Vogel aus meinem Blickfeld verschwunden war, drehte ich mich um und erblickte in der Ferne einen leuchtenden Punkt, der den letzten Waggon des rasch schwindenden Zuges markierte.
Mein Zug ist ohne mich abgefahren, und mein Glück habe ich selbst aus der Hand gegeben, ohne mir überhaupt die Mühe gemacht zu haben, darüber nachzudenken.
Es ist wirklich nicht einfach, bei allem, was einen umgibt,