„Wenn ich das richtig sehe, habe ich die Wahl, zurück zu meiner asozialen Mutter zu gehen …“
„Höre mal, wenn du unverschämt wirst, haue ich dir eine rein“, rief Rosalind zornig.
„Ja, darin warst du schon immer meisterhaft. Also, entweder mit dir zurück oder mich an einen alternden Casanova binden, der mich künftig wie eine Leibeigene behandelt. Beides nicht sehr rosig. Nur kann ich von meiner Mutter jederzeit wieder abhauen.“
„Meinst du, ich lege dir Fußfesseln an? Ich will nur unsere geschäftliche Basis legalisieren“, warf James ein. „Wir wollen die nächsten Jahre einen Haufen Geld verdienen. Und als meine Ehefrau bekommst du sogar noch einen größeren Batzen davon ab, als wenn du nur meine Angestellte bist.“
„Da ist was dran. Na gut, wenn du mich nicht festhältst …“
„Ganz so einfach ist das nicht, meine Süße. Du wirst deinen Vertrag einhalten, ob mit oder ohne Ehering. Wenn nicht, verklage ich dich, damit das klar ist. Was du nach den drei Jahren tust, steht auf einem anderen Blatt. Da ich kein Frankenstein bin, bleibst du ja vielleicht auch danach noch bei mir. Der Begriff Liebe wird ja wohl auch für dich kein Fremdwort sein. Ein Teil davon klappt doch bisher ganz gut mit uns, oder täusche ich mich?“
Tallulah wurde ungewollt rot. Es war ihr peinlich, dass James so offen davon sprach, dass sie miteinander schliefen.
„Musste das jetzt sein? Was meinst du, was Mutter dazu sagt?“
„Deine Mutter ist raffiniert genug, den Braten schon längst gerochen zu haben. Sie ist nämlich nicht von gestern. Und wenn du nach den drei Jahren die Scheidung willst, werde ich mir überlegen, ob ich sie statt deiner heiraten werde.“
„Also Sie sind mir einer“, gurrte Rosalind.
„Es wird Zeit, dass du James zu mir sagst, Mom.“
„Gerne James, aber wenn ich ehrlich bin, ist es mir lieber, wenn du bei deinem unvergleichlichen Ma’am bleibst.“
„Na wie schön, dass ihr euch wenigstens einig seid“, keifte Tallulah. „Warum heiratest du nicht gleich sie?“
„Halt den Mund und kümmere dich ums Geschäft!“
„Na, das kann ja heiter werden.“ Tallulah murrte zwar, folgte aber.
Im Lunapark bot eine Dame namens Pythia an, mittels Tarotkarten, einer Kristallkugel oder Handlesen in die Zukunft zu schauen. Tallulah war von der Kunst des Weissagens fasziniert, weil auch sie nicht abwarten konnte, was ihr die Zukunft bringen würde. Da sie keine Ahnung von Gestalten des antiken Griechenland hatte, wunderte sie sich zwar etwas über den eigentümlichen Namen Pythia, brachte ihn aber allenfalls mit einer Pythonschlange in Zusammenhang. Dabei lag sie in ihrer irrigen Auffassung nicht einmal völlig daneben, denn die männliche Form der Pythia war der Python gewesen, ein Begriff für den Seher allgemein im antiken Griechenland.
Die schwarzhaarige, geheimnisvolle Schönheit mit der fast durchsichtigen Haut war kaum älter als Tallulah und hieß eigentlich Dina, nur war ihr das zu gewöhnlich. Die einzige Gemeinsamkeit, die Dina mit den Pythien des antiken Delphi hatte, war, dass auch sie aus einfachen Verhältnissen stammte, also eine Frau des Volkes war. Die antike Pythia hatte über einer Erdspalte, aus der ein Gas quoll, sitzen müssen. Während man damals glaubte, der Gott Apollon spräche aus ihr, nahm man in der Moderne an, dass durch die Gase oder Sauerstoffmangel die Trance hervorgerufen wurde. Die Pythia hatte als Medium keine Macht inne, durfte aber als einzige Frau den Apollontempel betreten. Die Oberpriester des Gottes interpretierten ihre Worte und Visionen. Die nicht besonders auserwählten, einfachen Frauen aus der Stadt Delphi hatten jungfräulich zu bleiben. Eine Vorstellung, die Dina undenkbar erschien. Auch brauchte sie kein Gas, um sich in Trance zu versetzen.
Die mögliche Vorgängerin der Pythia war eine Sibylle. So gab es außerhalb des Orakels in Delphi den „Fels der Sibylle“. Nur weissagte diese der Überlieferung nach die Zukunft unaufgefordert, was für Dina ganz und gar nicht galt, denn sie bezahlte man sogar dafür.
Dann war sie schon eher mit Kassandra aus der griechischen Mythologie, die die Trojaner vor dem Trojanischen Pferd und dem Untergang Trojas warnte, zu vergleichen, denn wie Kassandra empfand sich Dina mitunter als eine tragische Figur, die das Unheil voraussah, aber kein Gehör fand.
Ebenso wie die Pythia drückte sich Dina meist undeutlich, verschlüsselt oder wie böse Zungen behaupteten allgemeingültig aus. Bei Tallulah wurde sie ungewohnt konkret.
„Sie werden nicht viel Glück im Leben haben“, sagte Dina und tippte mit spitzen Fingern auf ihre Karten. „Ihre Ehe ist zum Scheitern verurteilt. Es steht schon eine Andere parat, die den Platz an der Seite Ihres Mannes einnehmen will.“
„Wer ist die Schlampe?“, schrie Tallulah. „Sie kann doch nur zu unserer Truppe gehören.“
„Das kann ich nicht sagen. Ich sehe nur eine dunkelhaarige Frau, die schon in der Nähe ist.“
„Ob es ein Unglück ist, wenn der Kerl sich einer Anderen zuwendet, sei dahingestellt. Was sehen Sie sonst noch?“
Dina berührte mit beiden Händen die Kristallkugel, die im selben Moment ihr klares Aussehen verlor und milchig undurchsichtig wurde. Deshalb spiegelte sich nicht mehr der Raum darin, sondern im Innern waberten feine Rauchschwaden oder Nebel. Trotzdem schien die Pythia etwas darin zu erkennen.
„Sie laufen einem Traum hinterher, der Ihnen viel Leid bringen wird. Ihre Karriere wird nur von kurzer Dauer sein, wenn Sie der Sucht nicht widerstehen. Und das Kind sollten Sie besser nicht zur Welt bringen.“
Das war zuviel für Tallulahs Nerven. Sie flippte völlig aus.
„Und das wissen Sie so ganz genau, ja? Woher? Aus Ihren schmierigen Karten oder der lächerlichen Glaskugel, die mir nur mein eigenes Spiegelbild zeigt, oder was? Wie können Sie von einem Kind reden, wenn ich nicht einmal schwanger bin?“
„Sie haben mich um Rat gefragt“, sagte Dina. „Ich bin nicht dazu da, etwas zu beschönigen, sondern Denkanstöße zu geben. Noch haben Sie es in der Hand, die Dinge in die richtigen Bahnen zu lenken. Die Zukunft zeigt mehrere Wege auf. Es liegt an Ihnen, welchen Sie beschreiten.“
„Ach shit, alles Blah, Blah.“ Tallulah warf wütend einige Geldscheine auf den Tisch und verließ den stickigen, abgedunkelten Raum, bevor sie sich genötigt sah, handgreiflich zu werden. In ihrem kindischen Verhalten unterschied sie sich kaum von anderen Leuten, die ihr Horoskop nur dann ernst nahmen, wenn etwas Gutes darin stand.
Puh, dachte „Pythia“, heute scheint nicht mein Tag zu sein. Erst kommt diese arme Frau, der ich sagen muss, dass sie besser die Vergnügungsparks meiden sollte, wenn ihr das Leben von Mann und Kind lieb ist, und jetzt diese Furie. Wenigstens hat die Frau vorhin Fassung bewahrt und ist ruhig geblieben. Ob sie sich an meine Ratschläge hält, ist eine andere Sache.
Dina musste an die unglückselige Frau denken, der sie vor einiger Zeit etwas Ähnliches sagen musste. Auch die hatte die Warnungen scheinbar in den Wind geschlagen, wie die darauf folgenden Ereignisse bewiesen hatten. Dina hatte abgehackte Bewegungen wahrgenommen, und ein mechanisches Klicken, ohne damit wirklich etwas anfangen zu können. Erst später war ihr der Sinn bewusst geworden, als sie erfuhr, dass die verzweifelte Shirley O’ Brian behauptet hatte, in mechanischen Holzfiguren ihre kleine Familie wiedererkannt zu haben. Dina war weit davon entfernt, diese Beobachtung in das Reich der Fantasie zu verbannen. Keine wusste besser als sie, dass es da mehr Dinge zwischen Himmel und Erde gab.
Elmer Jones kam mit seiner Frau Betty und dem Söhnchen Tom aus dem Steeplechase Park, der seinen Namen einem mechanischen Pferderennen verdankte, bei dem man auf Holzpferden reiten konnte, die auf sechs parallel existierenden Eisenschienen liefen. Eine weitere Attraktion waren ein Riesenrad und die „Reise zum Mond“, ein Raumschiff, das mehr wie ein Boot mit Flügeln aussah, und als Fahrsimulator diente.
Der kleine Tom trug die Eintrittskarte zum Steeplechase Park noch in seiner Hosentasche. Darauf warb eine Figur mit Kultcharakter, das