Halmschor, der keine Vorstellung davon hatte wie groß das ummauerte Gelände war, staunte nicht schlecht als in Sichtweite zum Weg ein ganzes Dorf mit zum Teil uralten Häusern auftauchte. Oberhalb auf den Hügeln blitzten einige Mauerteile zwischen den Bäumen hervor, hinter der Mauer schien nichts mehr zu sein. Sie ließen das Dorf links liegen, Halmschor schaute verwundert zurück. „Da sind schon die Kollegen“, sagte ihm der Arzt. „Wir haben ein schöneres Dorf“. Der Talboden war von den unterschiedlichsten Feldern bedeckt, immer mal wieder waren Übergewichtige in unmodischer grüngrauer, blaugrauer und rotgrauer Kleidung zu sehen. Manche schoben oder zogen einen Handkarren, andere trugen Schaufeln oder Hacken auf den Schultern, wieder andere hatten einfach nur die Hände in den Hosentaschen, welche der einzige Luxus war, mit dem ihre Klamotten ausgestattet waren.
Den Weg zwei Kilometer weiter, tauchte nach einer Biegung das versprochene Dorf auf. Wie das andere auch hatte es einen richtig alten Ortskern, nur lag es dicht am Waldrand, was es für das Auge malerischer machte. Von oben herab leuchtete ein Stück der hellen Mauer und Halmschor vermutete nun am Ende des Sklavengeheges zu sein. Sie wurden von einer riesigen Quallenmasse erwartet. „Wieviel leben hier eigentlich innerhalb der Mauer“ erkundigte er sich beim Arzt. „So an die zehntausend. Was drüber geht wird umgesiedelt“. Halmschor blieb der Mund aufstehen. „Zehn…“ In Anbetracht des Auflaufs sah es gewaltig nach Überstunden aus.
Die Arbeiter begannen mit Halmschors Hilfe die Lebensmittel auszuladen und zu verteilen. Dabei verzweifelten sie an der Langsamkeit der Sklaven, mussten sich aber zusammenreißen um nicht zu fluchen und zu schimpfen. Jedes unbedachte Wort und erst recht jedes Schimpfwort das ihnen entfuhr, machten sich die Sklaven aus lauter Freude am Neuen sofort zu Eigen und konnte schon am nächsten Tag dem Personal tausendfach entgegenschallen. Erst recht durfte das Personal keine Wörter benutzen die Fragen aufwarfen, aus denen man sich dann herausreden musste. Worte wie Telefon, Supermarkt, Musik und tanzen, waren ihnen unbekannt und konnte die Neugier erwecken. Gespräche über Politik, Sport, Religion und Familie durften nur fern der Sklaven geführt werden. Alles Unbekannte konnte zu Missverständnissen führen und Unzufriedenheit verursachen, was die Quallen bockig machte und den Arbeitstag in die Länge zog.
Als gegen Mittag die Lebensmittel endlich verteilt waren, atmete Halmschor erst einmal tief durch und ging zum Bus, um sein Mittgebrachtes zu verzehren. Danach mussten noch die Tauschprodukte, also die Knollen und Rüben, und die Blutkonserven eingeladen werden. Es war ein anstrengender Morgen gewesen, sogar der anstrengendste des Jahres. Die Sklaven hier hinten waren zwar genauso lahmarschig wie die vorne, wo er bislang gearbeitet hatte, aber er empfand sie als bedrohlicher. Vermutlich kam das auch daher, dass sie Feuer machen konnten. Während der Lastzug auf dem Dorfplatz entladen und die Pakete und Tonnen in einer ehemaligen Festhalle aufgestapelt wurden, hatte sich am Dorfrand die kleine Rauchfahne eines erloschenen Feuers emporgekräuselt. Irritiert wollte er nach dem Rechten sehen, doch eine gewichtige Phalanx schwerer Rücken hatte sich zwischen ihm und der Rauchquelle aufgebaut. Auf so ungewohnte Weise verunsichert, sucht er den Chef und meldete seine Beobachtung.
„Tja, da hatten wir anfangs nicht schlecht gestaunt und die ersten Feuer gleich wieder gelöscht“, verriet der Alte. „Es gibt aber irgendetwas mit dem sie täglich ein neues Feuer entfachen können, bloß kommen wir nicht dahinter. Altholz sammeln scheint hier eine beliebte Beschäftigung zu sein. Wir nehmen an, dass die Horde sich nachts um ein Feuer versammelt.“
„Haben sie noch keine Augen aufgehängt, um die Sache zu beobachten?“ wollte Halmschor wissen. „Doch, doch, da hängt eine ganze Reihe von diesen Dingern herum, aber viele funktionieren nicht mehr. Sobald der Mensch vom Sicherheitsdienst wieder gesund ist, gehen wir der Sache nach“, meinte der Chef der Dr. Albritz hieß.
Halmschor saß in einer offenen Tür des Buses und verspeiste sein Mitgebrachtes, eine Wurst-und Käse-Rolle, als ihm ein kleines Kind auffiel, das ihn beim Essen zusah. Er rechnete damit angebettelt zu werden, es war aber strikt verboten den Sklaven Essen und Trinken von außerhalb zu geben. Nie durften sie merken, dass es auch noch andere Nahrungsmittel gab als die, die sie kannten. Da die Haare der meisten Sklaven so kurz waren wie sie innerhalb eines Jahres wuchsen, war der Unterschied zwischen männlich und weiblich oft nicht zu erkennen. Halmschor betrachtete das Kind genauer, da es nicht recht in das gängige Sklavenschema zu passen schien und um dahinter zu kommen ob es männlich oder weiblich war. Das Kind das höchstens fünf Jahre alt sein konnte, hatte ein ausgesprochen hübsches Gesicht. Mit einem Mal merkte er auch an was es lag. Das Mädchen, so war er nun überzeugt, hatte keine dicken Backen wie die anderen Kinder. Trotz der unförmigen Kleidung konnte man erahnen, dass es wenig auf den Rippen hatte, vermutlich war das schöne Kind krank.
„Wie heißt du denn?“ fragte Halmschor das Mädchen.
„Bimm“ war die einsilbige Antwort. Er musste sich ein Lachen verkneifen, denn die Sklaven, die Null Bildung und noch nie etwas von einer Schule gehört hatten, gaben sich die kuriosesten Namen.
„Und du?“ fragte das Mädchen zurück. Da musste Halmschor vorsichtig sein, denn bei der Ausbildung hatte man ihnen eingeschärft, niemals den Sklaven den Namen zu verraten. Jemand der das einmal gemacht hatte, hatte dadurch jahrelange Unruhe provoziert, weil bald die Hälfte der neugeborenen Buben Thorvald gerufen wurden und das brachte automatisch schlechte Stimmung. Ein Vermittler versuchte die Sklaven monatelang davon zu überzeugen, den Namen in Variationen zu zerlegen. Zum Beispiel nur Tor, oder nur Wald, oder Waldtor. Waldtor gefiel dann allgemein sehr gut, was das Problem wieder in das Anfangsstadium katapultierte.
„Ich heiße Hal, freut mich dich kennenzulernen, Bimm“, antwortete Halmschor ungewohnt freundlich. Er rechnete immer noch damit von dem mageren Mädchen um sein Essen angebettelt zu werden, als es die nächste Frage stellte.
„Was habt ihr denn auf eure fahrende Hütte gemalt?“ zeigte sie auf die Beschriftung des Buses. Hal überlegte mit was er sie anlügen sollte. Die Arbeiter hatten strikte Anweisungen den Sklaven keine Bildung zukommen zu lassen, weil man nie wissen konnte wohin das führte.
Dann meinte er: „Etwas damit wir sie wiedererkennen, es gibt ja noch eine ähnliche“.
„Es gibt sogar vier“, wusste das Göhr. Stimmt, wusste auch Halmschor, es gab noch ein Ersatzfahrzeug, die Kleine war hellwach und hatte die Unterschiede auf der Beschriftung erkannt.
„Weißt du wie alt du bist?“ fragte er neugierig.
„Sechs oder sieben Jahre, meine Mutter ist mit dem Zählen durcheinander gekommen. Ich glaube sie kann gar nicht zählen“ erklärte sie mit der größten Selbstverständlichkeit.
„Aber du kannst zählen?“ fragte er belustigt.
„Bis zwanzig.“
„Und woher kennst du die Zahlen?“
„Ihr zählt doch jeden Morgen die Pakete mit dem Essen“ war des Rätsels Lösung. Halmschor schloss daraus, dass hier hinten im Wald jeden Morgen zwanzig Paletten abgeladen wurden, fünf mehr als bei ihm vorne.
Er ging auf Bimm zu, streckte ihr die Hand entgegen und meinte: „Komm, ich zeige dir mal die fahrende Hütte“, denn er wollte von dem alten Arzt untersuchen lassen, weshalb das aufgeweckte Mädchen so mager war. Aber so schnell wie sie sich aus dem Staub machte, konnte Halmschor gar nicht reagieren. Na, so fit wie die war konnte sie nicht besonders krank sein. Er ging trotzdem zum Arzt und erkundigte sich nach dem Mädchen.
„Ist ihnen diese kleine dunkle lockige schon einmal