Seine Schultern wurden ausladender die Muskeln ansehnlicher. Nur das Wachstum in die Höhe klappte nicht so, wie er es gern gehabt hätte. Zu der von ihm angepeilten Körperhöhe von Einsachtzig fehlten noch knappe fünf Zentimeter.
Was Michael jedoch nicht davon abhielt, gelegentlich Auseinandersetzungen mit vermeintlich Stärkeren zu provozieren. Er schlug fast immer als Erster und verkürzte seine Attacken gern durch gezielte, brutale Schläge auf Magen und Leber.
Von Seiten der Lehrkräfte blieben disziplinarische Maßnahmen gegen ihn nicht aus. Zudem wurde seine Mutter informiert. Doch sie bemerkte es auch selbst, wenn sich in seinem Gesicht unübersehbar die Spuren der Auseinandersetzungen zeigten.
Denn dann suchte er nicht im Wohnheim, sondern daheim Unterschlupf.
Infolge dessen schien seine Mutter oft der Verzweiflung nahe. Inständig flehte sie ihren Sohn an, seine Aggressionen zu unterlassen. »Warum kannst du nicht so friedfertig sein, wie die meisten deiner Mitschüler? Woher kommt nur das Böse in dir?«
Statt einer Antwort zuckte er stets nur mit den Schultern.
Etwa zur gleichen Zeit erhielt Michaels Mutter von Seiten einer Nachbarin und hinter vorgehaltener Hand, beunruhigende Hinweise. »Bereits zum zweiten Male innerhalb eines Jahres, liebe Frau Bruhns, hat der ABV’er bei mir geklingelt! Ja, ja. Der Genosse Abschnittsbevollmächtigte! Um ein höchst vertrauliches Gespräch mit mir zu führen«, raunte die Nachbarin ihr zu. »Auch dieses Mal hat der Grüne ganz gezielt nach Michaels Umgang und seinem – Gesamtverhalten – gefragt!«, ergänzte die Frau mit Lockenwicklern im Haar. Wobei sie sich rasch umschaute. »Wie er denn so lebt, wollte er wissen. Wie sein Verhältnis zu anderen Leuten ist und ob er eventuell über unseren sozialistischen Staat gemeckert hat?« Sie schürzte kurz die Lippen, nickte mit geschlossenen Augen. »Der ABV musste mich natürlich zur Verschwiegenheit über dieses Gespräch verpflichten. Kann man ja verstehen. Aber ich als gute Nachbarin kann diese Information schließlich nicht der Mutter des betreffenden Jungen vorenthalten! Oder nicht?« Die Nachbarin trat einen Schritt zurück. Rasch schaute sich um. Woraufhin sie mit leiser Stimme aber unüberhörbarer Schärfe noch eine Frage stellte. »Wann, meine liebe Frau Bruhns, haben Sie in ihrem Konsum denn wieder mal Orangen oder die Pralinen aus’ m Westen?«
Michaels Mutter zeigte sich überrascht. Doch mit ihrer Vermutung, dass die Befragung durch den ABV nur erfolgte, weil ihr Sohn sich geprügelt hatte, lag sie völlig falsch.
Die Erkundigungen die der »Abschnitts-Bevollmächtigten der Volkspolizei« vornahm, dienten einem ganz anderen Zweck.
Michael Bruhns besuchte bereits die zwölfte Klasse. Er trug seine vormals schwarz–wallende Haarpracht inzwischen militärisch kurz geschnitten.
Im Gegensatz zu anderen Jugendlichen, deren Haare zumeist bis auf die Schultern fielen.
Ein anfänglich noch schütteres Oberlippenbärtchen pflegte er zudem mit Hingabe.
Mittlerweile war er ein breitschultriger, sportlicher Typ geworden und verfügte er mit seinen siebzehn Jahren zudem auch über ein gefälliges Äußeres. Dazu zählte auch, dass er bei Plaudereien mit Ausbildern und Vorgesetzten neuerdings eine gewisse Wortgewandtheit erkennen ließ. Das kam bei den meisten Leuten, mit denen er zu tun hatte, recht gut an.
Auch, weil er sie durch seinen galligen Humor zum Grübeln animieren konnte.
Dann jedoch kam der Tag an dem er bemerkte, dass er letztlich keine Freunde besaß. Denn nach und nach verkleinerte sich der Kreis derer, die mit seiner gesamten Art nicht mehr klarkamen. Diese Tatsache ließ ihn aber zu seiner eigenen Verwunderung völlig kalt.
Ende der Zwölfen Klasse begaben sich überraschende Dinge in Michael Bruhns Leben.
Es passierte an jenem Tag, an dem sein Klassenleiter, Herr Rieger, mit ihm eine der üblichen Aussprachen führte.
Wie immer tat er das an einem Freitag nach der letzten Stunde.
Michael und der Lehrer befanden sich allein im Unterrichtsraum. Die Fenster waren geöffnet, im Schulhaus war es ruhig geworden.
Der große, hagere Mann mit schütterem Haar roch durchdringend nach Tabakqualm. Denn vor dem Gesprächstermin zog er auf dem Schulhof wohl noch hastig eine Zigarette durch.
Die Ärmel seines dunkelgrauen Anzuges, an dem neben den drei Knöpfen nur das Parteiabzeichen glänzte, erweckten einen abgewetzten Eindruck.
Rieger lehnte sich rückwärts gegen das Lehrerpult. Er verschränkte die Arme vor der Brust und blickte auf Michael herab. Der hatte sich vor ihm in die erste Bank gequetscht.
»Es kotzt mich, gelinde gesagt langsam an, Michael Bruhns!«, begann der Lehrer die Aussprache. »Ich meine, dass ich mich wieder mit dir übers gleiche Thema auseinandersetzen muss – deine mangelnde Einfügung in das Klassenkollektiv! Ich begreife das nicht. Du gehörst unbestreitbar zu den leistungsmäßig besten Lehrlingen an unserer Berufsschule. Du zeigst bei der GST die hervorragendsten Ergebnisse in den meisten Disziplinen. Du motivierst sogar deine Kameraden, wenn sie mal durchhängen. Aber deine verfluchte Eigenbrötelei ist für uns nicht mehr nachvollziehbar! Und vor allem dein Hang zur Aggressivität, deine Prügeleien! Das geht gar nicht! Michael Bruhns! Ich sage es so, wie es ist. Du riskierst härteste disziplinarische Maßnahmen!«
Michael beendete schließlich die Aussprache von sich aus und für den Lehrer zumindest überraschend. Nämlich mit einem Versprechen, das er ihm gab! »Ich sehe meine Fehler ein, Genosse Rieger! Habe selbst schon viel darüber nachgedacht und deswegen auch mit meiner Mutter gesprochen. Also keine Prügeleien mehr! Sie werden sehen, dass ich es wirklich ernst meine!«
Genervt von den ständigen Anwürfen hatte sich Michael hierzu durchgerungen. Von nun an würde er aufgeschlossen und kontaktfreudig gegenüber seinen Mitmenschen sein. Wenn es ihm Ärger ersparte gern!
Daher ließ er sich sogar von einigen seiner Mitschüler überreden, zum »Tanz in den Mai« mitzugehen.
Am Samstag. In ein Tanzlokal an der Elbe, das er noch nie besucht hatte.
Samstagabend stand Michael Bruhns wahrhaftig in dem weitläufigen Tanzsaal an der Elbe.
Dicke Schwaden vom Zigarettenrauch schwebten unter der Decke, bunte Lichter huschten umher.
Geraume Zeit lehnte er an der chromblinkenden Theke, die man mit Maiengrün geschmückt hatte. Und er langweilte sich fürchterlich.
Die drei Mitschüler, mit denen er hergekommen war, tanzten mit Mädchen, die er nicht kannte. Wie alle auf der Tanzfläche zappelten und hüpften sie nach dem stampfenden Rhythmus der sogenannten Beatmusik. Die fünf Mitglieder einer langhaarige –Band– hämmerte sie lautstark aus ihren riesigen Boxen von der Bühne in den vollen Saal herab.
Michael hingegen verspürte keinerlei Verlangen zum Tanzen. Denn ehrlich gesagt konnte er es auch gar nicht. Den Besuch einer Tanzschule hatte er stets für zutiefst spießbürgerhaft befunden. Und das hier war auch die erste Tanzveranstaltung, die er überhaupt besuchte.
Aber vor zwei Monaten begann er zwecks erweiterter Demonstration seiner Mannhaftigkeit mit dem Rauchen! Daher brannte er sich stattdessen noch eine »Casino« an.
Er musste zwar husten. Doch er pustete den Qualm von sich und musterte zutiefst interessiert über die Schanktheke hinweg die auf hohen Absätzen hin und her eilende Barfrau.
Die großgeratene Schwarzhaarige zählte gut über die dreißig Lenze, so schätzte er. Und wohl auch deshalb starrte er, wenn sie das Bier zapfte mit Stielaugen in den ansehnlich gefüllten Ausschnitt ihrer weißen Bluse. Über den schwarzen, kurzen Rock, der straff ihren rundlichen Hintern überspannte, hatte sie eine weiße, gestärkte Rüschenschürze gebunden. Ihre kräftigen Beine steckten in schwarzen Strümpfen mit nicht ganz gerade sitzenden Nähten.
Die für ihn aufreizend wirkende Barfrau war zudem recht stark geschminkt. Sie trug eine modische, hoch toupierte Kurzhaarfrisur und ließ an ihren Ohrläppchen rote Ohrringe baumeln.
Bald