Viktorias Blick wurde weich und verträumt. »Bei mir endete die Suche in dem Augenblick, als ich vor fast drei Jahren Ketu zum ersten Mal begegnete. Ich war damals furchtbar unglücklich, weil er meine Gefühle nicht zu erwidern schien. Dennoch wollte ich niemand anderen mehr. Ich wollte bloß noch ihn und wusste gleich, dass er derjenige wäre, der meine Leere füllen könnte.« Sie seufzte erneut. »Es hat dann zwar noch mehr als zwei Jahre gedauert, bis er sich endlich getraut hat, der Tochter des Königs seine Liebe zu gestehen. Na ja, besser spät als nie, nicht wahr?«
Wieder legte sie ihre Hände an Annas Gesicht und die ließ es resigniert geschehen. Die Farbe bekäme sie schon noch weg. Viel wichtiger waren ihr Viktorias faszinierende Worte:
»Bei Viktor hat es länger gedauert. Als er dich das erste Mal im Wald erblickte, Anna, da wusste er, dass seine Suche beendet war. Er hat sich vom ersten Augenblick an in dich verliebt. Und das weißt du. Das weißt du ganz genau. Nur du bist dazu in der Lage, seine innere Leere zu füllen und seine Sehnsucht zu stillen. Nur du zählst für ihn. All die anderen Frauen hatte er in dem Moment vergessen, in dem du in sein Leben getreten bist. Und genau das ist der Grund, warum er dir nie etwas davon erzählt hat.«
Viktoria liefen dicke Tränen über das farbverschmierte Gesicht. »Ich weiß das, Anna. Nicht nur, weil ich seine Schwester bin, sondern weil ich haargenau dasselbe bei Ketu empfunden habe. Alle Jungen, alle Männer, die ich vor ihm kannte, waren von einer Sekunde zur anderen völlig egal, total unwichtig. Sie waren vergessen. Allein Ketu zählte. So wie du für Viktor.«
Auch Anna weinte. Ungeachtet der Tatsache, dass sie damit ihre neue Bluse endgültig ruinierte, fiel sie Viktoria in die Arme.
»Ach, Viktoria, was bin ich doch für eine blöde Kuh?«, schluchzte sie. »Es tut mir leid. Es tut mir ja so furchtbar leid. Ich war so dumm.«
***
Viktoria hielt Anna tröstend in den Armen und fühlte sich dabei auf sonderbare Weise selbst getröstet. Die Erinnerungen an die Zeit, in der sie sich der Liebe ihres Vaters nicht sicher gewesen war, in der sie sich deshalb umso mehr nach der Liebe ihrer Mutter gesehnt hatte, trafen sie vollkommen unvorbereitet. Die Emotionen überfluteten ihr Herz, erschütterten es in seinen Grundfesten. Niemals hätte Viktoria angenommen, dass diese Sehnsucht in einer derart gnadenlos brutalen Weise wieder in ihr aufsteigen und sie komplett aus der Fassung bringen könnte. Von heftigen Weinkrämpfen geschüttelt wollte sie sich von Anna lösen, doch die hielt sie fest.
»Nicht, Viktoria! Wende dich nicht ab. Lass es raus.«
Froh darüber, dass sie sich gegenseitig hielten, standen die beiden eine ganze Weile in Viktorias Zimmer und gaben sich ihren Tränen hemmungslos hin. Dabei hatten sie die Zeit vollkommen aus dem Blick verloren und zuckten beide überrascht zusammen, als Viktor, Ketu und auch Vitus zur Tür hereinplatzten.
»Was, um alles in der Menschen- und Elfenwelt, ist denn hier los?«, wollte Vitus wissen, obwohl er die Gefühle der Frauen eindeutig wahrgenommen hatte.
Für eine Sekunde blieb sein Gesicht absolut ausdruckslos, ehe es sich zu einer schmerzerfüllten Miene verzog. Er riss Viktoria in seine Arme und hielt sie einfach nur fest. Unterdessen sah er zu Anna und Ketu.
»Würdet ihr Viktoria, Viktor und mich bitte kurz allein lassen?«
Die beiden nickten stumm und gingen schweigend hinunter in die Küche.
***
Anna konnte sich nicht beruhigen. Sie war fassungslos. Was hatte sie da mit ihrer blödsinnigen, egoistischen Eifersucht angerichtet? Was hatte sie sich nur dabei gedacht? Dumm und anmaßend, wie sie war, hatte sie doch tatsächlich geglaubt, das Seelenleben der Zwillinge inzwischen zu kennen, insbesondere Viktors. Doch das war ein gewaltiger Irrtum. Dass er ihr einen derart wichtigen Teil eben dieses Seelenlebens verschwiegen hatte, schmerzte sie vielmehr, als dass es sie verwirrte. Sie konnte sich einfach nicht erklären, warum Viktor ihr von diesen anderen Frauen rein gar nichts erzählt hatte. Nun wurde ihr bewusst, dass es ihr niemals gelingen würde, ihn vollends zu verstehen, und das tat ihr weh.
Sie hatte schließlich immer ihre eigenen Eltern um sich gehabt, war sich deren Liebe und Fürsorge stets gewiss. Solch schlimmer Verlust, innere Leere oder quälende Sehnsucht, wie Viktoria sie beschrieben hatte, waren ihr unbekannt. Doch anstatt sich Gedanken darüber zu machen, war sie über Viktoria hergefallen und hatte sie quasi dazu genötigt, sich dieser Gefühle erneut zu erinnern.
Anna war sauer auf sich selbst. Was war sie doch für eine bescheuerte Ziege?, dachte sie grimmig. Dumm, egoistisch, unsensibel!
»Anna, hör auf damit!«, befahl ihr Ketu mit einem Mal und hielt ihre Hände fest.
Erst jetzt bemerkte sie, dass sie eigentlich dabei gewesen war, Kaffee zu kochen, was zu dieser Uhrzeit blanker Unsinn war. Außerdem hatte sie, statt Wasser in die Kaffeemaschine zu füllen, damit begonnen, ihre Hände zu schrubben. So, als wollte sie alles von sich abwaschen. Nicht nur die Farbe, sondern alles: all den Trübsinn, die Trauer, ihr schlechtes Gewissen, ihre Zweifel. Alles! Das Ganze war in ihr hochgekocht und sollte einfach nur weg, weg, weg!
Ehe sie sich versah, begann Ketu, ihr mit einem Küchentuch die Hände abzutrocknen. Als er sie währenddessen näher betrachtete, huschte ihm ein Lächeln über die Lippen.
»Du hast Viktoria beim Malen gestört«, stellte er leise fest, nahm ein Papiertuch, befeuchtete es unter dem Wasserhahn und begann, vorsichtig ihr Gesicht abzuwischen. Dabei schüttelte er weiterhin lächelnd den Kopf. »Wie oft sie mich schon mit Farbe bekleckert hat. Ich habe mir deshalb sogar in einem Drogeriemarkt der Menschenwelt solche Nagellackentferner-Tücher besorgt. Damit bekommt man das Zeug am besten runter. Leider habe ich die letzten Tücher bereits verbraucht.«
Er besah sich Anna noch einmal genauer. »Na ja, ein bisschen besser ist es schon. Aber deine Bluse ist leider hin, Anna. Tut mir leid.«
Ketu war so lieb zu ihr. Viel zu lieb, das hatte sie gar nicht verdient, fand Anna und konnte ihr Schluchzen nicht zurückhalten
»Hey, nicht wieder weinen«, flüsterte er. »Du hast doch gar nichts falsch gemacht.«
Ketu schob sie am Arm Richtung Wohnzimmer, um sie dort auf einen Sessel zu drücken. Danach eilte er zur Küche zurück und brachte ihr