Jetzt wusste ich, ich bin da.
Doch wer bin ich? Fragt mein erwachter Geist.
Erst sehr viel später, am 28. Februar 1953 erfuhr ich von den Nobelpreisträgern James Watson und Francis Crick, dass ich nichts weiter als eine chemische Verbindung bin, ein Nukleotid aus Stickstoff mit vier Basen, ein paar Phosphatresten und ein wenig, Zucker, eine Desoxyribonukleinsäure,
kurz DNA (Säure heißt auf englisch „acid“, daher DNA. Die Deutschen dürfen aber ausnahmsweise auch DNS sagen.)
Gene sind aus DNA gemacht, Erbanlagen, die in Stäbchen, den Chromosomen verpackt sind. Eine geniale Idee und eine geniale Verpackung.
Diese Gene bestimmen nicht nur, ob du ein Gänseblümchen oder eine Gans bist, sondern auch wie du dich zu benehmen hast und wie lange du voraussichtlich leben wirst, falls dir nicht vorher ein Ziegelstein auf den Kopf fällt. In diesen Genen sind sämtliche Informationen für alle nur denkbaren Lebewesen – Dinosaurier, Frosch, Mensch – gespeichert.
Doch woher haben diese elektromikroskopisch kleinen Gene ihre Informationen? Und wer hat sie in Stäbchen verpackt? Und für wen sind diese Informationen bestimmt?
Ich, als Desoxyribonukleinsäure müsste es eigentlich wissen, da diese Gene aus mir gemacht sind. Aber es ist schon so lange her, ich kann mich nicht mehr daran erinnern. Möglich, dass es ein unbestimmtes Wissen vom Leben war, ein Ahnen, das sich wie der Samen einer Idee im Weltall verstreute und auf der Erde auf fruchtbarem Boden fiel.
„Da unsere Erde ein Teil des Universums ist, kommt das Leben in jedem Fall aus dem All, gleichgültig, welchen Standpunkt wir einnehmen.“ schreibt die Biologin Lynn Margulis.
Zum Leben gehört mehr als nur Sein. Ich ahnte, dass mir zum Leben etwas fehlte – ein Körper, von dem ich sagen kann „das bin ich“. Ich musste einen Raum bilden, in den ich mich mit meinen Gefühlsregungen und geistigen Vorgängen zurückziehen kann, um mich abzugrenzen gegen das da „draußen“, das Weltall, das Wasser, gegen andere Körper.
Kurz entschlossen wählte ich aus den chemischen Molekülen, die reichlich in dieser Ursuppe, dem Urmeer, herumschwammen die geeignetsten für eine Schutzhülle, eine Art Haut, eine Membran, die mich wie in einer Zelle von der Außenwelt abschloss. Natürlich musste diese Membran durchlässig sein und sensibel auf Umweltreize reagieren, da ich mich der Welt nicht verschließen, sondern, im Gegenteil, an ihr teilhaben wollte.
Jetzt konnte ich sagen: „Ich bin ein Einzeller, ein lebendes Wesen“.
Ein lebendes Wesen ist ein Wesen mit Stoffwechsel. Ein Esstisch isst nicht und verdaut nicht, ist also nicht lebendig. Ich hingegen bekam plötzlich Hunger, das Leben auf diesem Planeten hatte begonnen.
Jedenfalls für mich.
Bald musste ich aber einsehen, dass der Beginn meines Lebens nicht unbedingt der Beginn des Lebens war. Um mich herum wimmelte es von Einzellern.
Wo kamen die alle her?
Sonnenanbeter und Umweltverschmutzer
Sonnenstrahlen tänzelten auf dem Boden des flachen Meeres, einer Lagune. Es war angenehm warm. Ein feierliches Licht, fast wie in einer romanischen Kapelle der Pyrenäen. In Gruppen oder einzeln schwänzelten Einzeller mit ihren Flagellen oder Undulipodien, wie das Schwänzchen wissenschaftlich heißt, an mir vorbei. Einige zwinkerten mir zu oder grüßten sogar, andere beachteten mich gar nicht. Manche waren kugelrund, andere mehr länglich, es gab sogar spiralförmige wie Fusilli Nudeln.
Ich war ein Neuling, ein Greenhorn, und begriff nicht, was da vor sich ging, als direkt vor mir eine purpurne Schwefelbakterie mitten entzwei brach und zwei purpurne Schwefelbakterien davonschwammen. Mir wurde schwindelig, geradezu übel im Bauch. In meinem Inneren begann es zu rumpeln und zu rumoren. Meine Chromosomen – in denen die Gene verpackt sind – die sich häuslich in meiner Zelle eingerichtet hatten und zusammen geringelt herum lümmelten, begannen sich zu räkeln, wickelten sich auseinander und spalteten sich der Länge nach mittendurch. Jede Hälfte ergänzte sich dann wieder und somit hatte ich doppelt so viele Chromosomen, die sich zu Paaren reihten und sich dann in dem Cytoplasma – so nennt man die Flüssigkeit in meiner Zelle – je zur Hälfte links und rechts der Membran verteilten. Und nun begann es mich zu zwicken. Es war, als würde ich mit einem Gürtel genau in der Mitte immer fester eingeschnürt. Von wem? Mach ich das selber? Und, noch bevor ich weiter darüber nachdenken konnte, riss ich mitten entzwei und ich war zwei. Der eine exakt wie der andere, jeder mit exakt derselben Anzahl von Chromosomen, mit denselben Geninformationen, den Genen. Es war nicht wie bei eineiigen Zwillingen, ein „ich“ und ein „du“, nein. Es war zweimal „ich“, ich und ich. Wenn man das nicht erlebt hat, kann man es nicht verstehen.
Ich bin die Bakterie, die nach links davoneilt und ich bin gleichzeitig die Bakterie, die nach rechts davon schwänzelt. Und wo bin ich, das Original ? Ich bin nicht gestorben, im Gegenteil, ich bin ein doppeltes Original, ein Klon.
Kaum hatte ich mich beruhigt, da ging das Rumoren in meinem Inneren, jetzt in zwei Inneren, von neuem los und wir teilten uns erneut. Jetzt war ich viermal das Original. Kaum waren 20 Minuten verstrichen, war ich acht, dann sechzehn und so immer fort – du kannst dir nicht vorstellen, wie viele ich jetzt bin, nach ein paar Milliarden Jahren.
„In deinem Mund, selbst wenn du dir die Zähne geputzt hast, leben mehr Bakterien als es Einwohner in New York gibt“ habe ich bei Lynn Margulis in dem Buch „Leben“ gelesen.
Die Sonne, die Anfangs noch ziemlich schwach die Erde beleuchtete, schien von Tag zu Tag – vielmehr von Jahrmillion zu Jahrmillion – immer stärker. Ich schwänzelte auf der Suche nach Essbarem, ein paar Partikelchen, die ich durch meine Membran filterte, durch die seichten Lagunen, als ich eine Cyanobakterie traf. Man sah sofort, das war was besseres, gehörte zur Intelligenzia. Sie leuchtete grün. Ein frisches Grün, von Kopf bis Fuß voll Chlorophyll. Wir waren uns sympathisch, wir freundeten uns an. Woher sie das Chlorophyll hatte, wollte sie nicht verraten, bot mir aber stattdessen eine Süßigkeit an. Ich war baff, so etwas hatte ich noch nie gegessen.
„Statt im Schlamm nach geschmacklosem Fraß herumzuwühlen“ sagte sie „ernähren wir uns mit Sonnenenergie, das ist sauber. Chlorophyll ist sonnenhungrig, es fängt die Sonnenstrahlen ein. Mit Hilfe der Energie dieser Sonnenstrahlen spalte ich Wassermoleküle in ihre Einzelatome auf, um mir den köstlichen Wasserstoff einzuverleiben. Diesen Wasserstoff verrühre ich dann mit Kohlenstoffatomen, die ich aus dem reichlich im Weltall vorhandenem Kohlendioxyd gewinne und produziere daraus Zucker, süße Nahrung. Wie ich sehe, hat dir mein Glucosepudding geschmeckt.“ Nicht ohne Stolz fuhr sie fort „ Dieses chemische Simsalabim wird die Welt verändern. Photosynthese wird es genannt.“
„Saukerle, diese Cyanos“ brummelte neben mir eine Archaeebakterie „was sie verschweigen, dass ist, dass sie die Welt vergiftet haben. Vergiftet mit Sauerstoff, dem Abfallstoff der Photosynthese. Umweltverschmutzer sind sie, diese Cyanos mit ihrer Photosynthese“
Archie, wie ich ihn liebevoll nannte, stammte noch aus der Zeit, als Mutter Erde entsetzlich nach faulen Eiern stank. Ammoniak, Schwefelwasserstoff, Methangase verpesteten die Atmosphäre. Aus schwarzen, violetten Wolken pisste saurer Regen und versauerte die Meere. Es blitzte pausenlos. Die Erdkruste war noch sehr dünn, alle Nas lang schlugen größere und kleinere Meteoriten ein. Überall brodelte und schmatzte es, der ganze Planet war radioaktiv verseucht, da die ultravioletten Strahlen ungehemmt auf den Planeten prallten. Auf der Erde war die Hölle los, keinen Hund hätte man vor die Tür gejagt. Archie liebte das, es