Wie der Fünfzehnjährige den Krieg überlebte und einer Hoffnung erlag. Gerhard Ebert. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gerhard Ebert
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738002348
Скачать книгу
kopflos bei der Tür ankam, weil er wenigstens sehen wollte, um welche Hausnummer es sich handelte, sah er beide plötzlich unmittelbar vor sich. Zum Glück waren sie so mit sich beschäftigt, dass sie ihn nicht wahrnahmen. Uwe war just in dem Moment aufgekreuzt, als sein Freund Günter das offenbar willige Fräulein in die Arme nahm und küsste.

      Uwe raffte seine letzte Kraft zusammen und huschte mit weichen Knien vorbei. Hatten sie ihn gesehen? Er wusste es nicht. Und da er nicht im Boden versinken konnte, tat er so, als sei er vorbeigegangen, weil er im naheliegenden Kolonialwaren-Geschäft einkaufen wollte. Zwar war ihm klar, dass Günter wusste, dass Uwe dort nicht einzuholen pflegte, aber das war jetzt gleichgültig. Schon erreichte er die rettende Ladentür und trat ein.

      Was wollte er hier? Einkaufen! Einfach irgendetwas! Ah ja, ein Päckchen Zündhölzer aus Riesa musste ihn jetzt retten. Zwar wusste er nicht, wie er zu Hause erklären sollte, warum er sich ohne familiären Auftrag plötzlich für Streichhölzer engagierte, aber irgendwie musste nun einmal gehandelt werden. Gedacht, getan. Der Ladenbesitzer musterte den unbekannten jungen Kunden durch seine Nickelbrille zwar wie einen potentiellen Brandstifter, aber Zündhölzer aus Riesa hatte er selbstverständlich am Lager. Schneller als gedacht stand Uwe wieder auf der Straße.

      Erleichterung! Freund Günter hatte sein Rendezvous offenbar beendet. Jedenfalls lief er just davon und erreichte, als Uwe das Geschäft verließ, gerade eine Ecke, um die er verschwand. In aller Ruhe konnte Uwe nun noch einmal zu bewusster Haustür gehen, um zu sondieren. Er fasste sich ein Herz und betrat sogar den Hausflur, um die Namen auf den Briefkästen zu lesen. Aber sie sagten ihm nichts. Meyer, Müller, Schulze. Das Übliche. Uwe war nicht klüger als zuvor. Niedergeschlagen verließ er das Haus.

      Immerhin wusste Uwe jetzt genau, wo seine Angebetete wohnt. Der dicke Wermutstropfen allerdings: Die Hübsche, die ihn so verzauberte, hatte einen Liebhaber! Und der war ausgerechnet sein Freund Günter.

      Ziemlich trostlos schlich Uwe nach Hause und saß alsbald wieder einmal wortlos und in sich gekehrt am Abendbrottisch. Weshalb er sich von Mutter einen leisen Rüffel einhandelte. Die blöden Zündhölzer hatte er vorsorglich in seine Kammer geschmuggelt; er würde sie schon irgendwann irgendwie dem häuslichen Vorrat zuordnen. Mit wem aber sollte er über seinen schlimmen seelischen Kummer sprechen? Etwa mit den Eltern? Nie im Leben. Das alles ging nur ihn etwas an. Also schwieg er beim Abendessen beharrlich in sich hinein. Und sobald es schicklich schien, verkroch er sich in seine Kammer.

      Uwe hatte Liebeskummer. Alsbald wurde es gewiss. Bei Goethe stieß er auf einen Vers, der ihn nicht wieder los ließ. Hieß es doch da: "Kein Feuer, keine Kohle kann brennen so heiß, wie heimliche Liebe, von der niemand weiß." Genau! Das war sein Problem! Olle Goethe kannte sich aus.

      In Uwe brannte ein Feuer, und das hieß heimliche Liebe. Es musste unbedingt heimlich bleiben! Aber das fiel sehr, sehr schwer, weil er sein Geheimnis wie eine schwere Bürde mit sich herumschleppte, die sich überhaupt nicht ablegen ließ und ihn so drückte, dass zumindest Mutter spürte, wie er litt. Er war ihr echt dankbar, dass sie ihn in Ruhe ließ. Er kam im Moment einfach nicht mit sich ins Reine. Uwe hatte sich nämlich zwar vorgenommen, diese Hübsche, die einen anderen hatte und sogar in aller Öffentlichkeit küsste, einfach aus seinem Leben zu tilgen, aber das klappte nicht.

      Unverhofft kam Uwe das Schicksal zu Hilfe. Wenigstens was den Namen der Hübschen betraf. Während einer seiner unruhigen Bummel-Touren durch die Hauptgeschäftsstraße entdeckte er die Angebetete, wie sie allein und offenbar gelangweilt geruhsam von Schaufenster zu Schaufenster schlenderte, obwohl so wahnsinnig Interessantes nicht zu schauen war. Sofort schlug ihm das Herz bis in den Hals. Angestrengt überlegte er. Jetzt war die Gelegenheit! Wahrscheinlich jedoch würde er sich ungeschickt anstellen. Aber dann hätte er es wenigstens mal versucht! Und im Trubel dieser Geschäftsstraße würde niemand merken, dass sich da eben ein verliebter Dussel einen Korb eingehandelt hatte.

      Uwe überlegte einen Moment zu lange, und schon kam alles anders als gedacht und erhofft. Fast war er schon neben seiner Angebeteten gewesen, nur wenige Schritte hinter ihr, als sie plötzlich von der gegenüberliegenden Straßenseite angerufen wurde.

      "Anneliese!" rief ein ihm unbekanntes Mädchen fröhlich, wedelte mit den Armen und eilte auch schon über die Straße.

      Aha! "Anneliese!" konstatierte Uwe. Die Gerufene blieb abrupt stehen, er konnte gerade noch ausweichen. Beinahe wäre er mit ihr zusammengestoßen. Schon ärgerte er sich mächtig, dass er diese Gelegenheit nicht genutzt hatte. Günstiger hätte sich ein erster Kontakt nicht ergeben können, sozusagen emotionsgeladen durch einen Aufprall. Schließlich war nicht er, sondern sie plötzlich stehen geblieben. Aber anstatt sich tief bei ihr einzuprägen, indem er kräftig, aber ungewollt auf sie aufbrummte, war er elegant vorbeigehuscht, wahrscheinlich sogar so unauffällig, dass sie das gar nicht mitgekriegt hatte.

      Missmutig lief Uwe weiter und blickte verstohlen zum Objekt seiner Begierde zurück. Anneliese, so hieß sie also, setzte inzwischen ihren Bummel mit der Freundin fort. Sie jetzt noch anzusprechen, wenn sie nicht mehr allein war, schien ihm völlig aussichtslos. Er würde sich wahrscheinlich nur lächerlich machen. Immerhin, kleiner Trost: Er kannte jetzt ihren Vornamen.

      Schon trieb ihn mächtige Neugier aus Stadtmitte hinaus in die Straße und zu der Haustür, wo im Flur an den Briefkästen Namen prangten. Erregt und ziemlich abgehetzt trat er ein. Aber noch kam er nicht dazu, in aller Ruhe die Namen zu studieren. Ein aufdringlicher Hausbewohner, der just die Treppe herunterkam, erkundigte sich hilfreich, aber im Grunde misstrauisch nach seinem Begehr.

      "Danke, danke", sagte Uwe und ergriff erst einmal die Flucht. Ungeduldig lief er die Straße auf und ab, immer in Sorge, diese Anneliese könnte inzwischen auftauchen. Obwohl, warum eigentlich in Sorge? Jetzt, da er ihren Namen kannte, könnte er, wenn sie allein käme, vielleicht mit ein bisschen mehr Aussicht auf Erfolg den Kontakt suchen. Doch sie kam nicht. Nein, sie kam nicht.

      Also ging Uwe wieder ins Haus. Diesmal störte ihn niemand. Tatsächlich, er hatte schon fast alle Namen gelesen, dann sah er, was er beim ersten Mal übersehen hatte: An einem Briefkasten stand schlicht "Anneliese", und zwar klein und unscheinbar auf einem Zettel unter dem Schild "August Krause". Das konnte eigentlich nur heißen, dass diese Anneliese noch bei ihren Eltern wohnte und sich offenbar durchgesetzt hatte, auf ihren Namen eigene Post zu empfangen.

      Prompt gebar Uwe eine neue Idee, die sofort so mächtig wurde, dass er sogleich an ihre Ausführung ging. Er eilte nach Hause in seine Kammer, wo er auf ein weißes Blatt Papier in Druckbuchstaben schrieb: "Kein Feuer, keine Kohle kann brennen so heiß, wie heimliche Liebe, von der niemand weiß." Und schon hatte er auch noch "Uwe" darunter gesetzt. Aber diese Leidenschaft hielt er nicht durch. Denn überhaupt: Was war das für eine "heimliche Liebe", die sich zu erkennen gab? Sozusagen eine "unheimliche" Liebe! Nein, das ging nicht. Also nahm er ein neues Blatt und setzte nur den Vers hin. Dann stopfte er seinen geliehenen poetischen Aufschrei in ein Kuvert, verschloss das Ding, schrieb "Anneliese Krause" darauf und eilte auch schon wieder los.

      Als der Brief endlich in den leeren Blechkasten plumpste, schien es ihm, als sei sein Herz mit hineingefallen. Plötzlich war ihm klar, dass er soeben eine durch und durch hirnrissige Aktion abgezogen hatte. Aber ihm war merkwürdig leichter. Offenbar war das, was er soeben unsinnig angestellt hatte, das Äußerste, was er im Werben um eine Frau zurzeit zustande brachte.

      11. Gründung einer Partei

      Schlimmes Einerlei des Daseins! Uwe empfand sich als so ausgeliefert! Alles geschah mit ihm. Wie dagegen angehen? Konnte man das überhaupt? Leider war er offenbar von Natur scheu und vorsichtig. Er versuchte stets, mit höflicher Zurückhaltung Eindruck zu machen und damit Erfolg zu erzielen. Aber höchstwahrscheinlich war das weltfremd. Denn die Welt, schwante ihm, war viel grausamer eingerichtet, als zu wünschen war.

      Im Moment, das wusste er ziemlich genau, gab es für ihn nur eine Devise: Konzentration auf die Schule! Die Schule war sozusagen das Nadelöhr, durch das er erst einmal hindurch musste. Und er durfte sich nicht ablenken, gar ablenken lassen; schon gar nicht immerzu an ein einziges Mädchen denken, obendrein an eins, das für ihn ganz offenbar unerreichbar war.

      Trostlos